Lesepredigt Ewigkeitssonntag

15.11.2020
Predigt zu Offenbarung 21,1-7
Dr. Roland Liebenberg

Gottes Geschenk der neuen Welt


Die neue Welt

Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im Buch der Offenbarung. Dort berichtet der Seher Johannes im 21. Kapitel:
Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann.
Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein. Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein. Denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss!
Und er sprach zu mir: Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst. Wer überwindet, der wird dies ererben, und ich werde sein Gott sein und er wird mein Sohn sein.

Die alte Welt ist dahin

Die alte Welt ist dahin. Das, was war, ist nicht mehr. Und nichts wird mehr sein, wie es einmal war. Das ist der Ausgangspunkt der eben geschilderten Vision, liebe Gemeinde. Wir alle können diese Worte auf unser Leben beziehen. In dem nun zu Ende gehenden Kirchenjahr oder in den Jahren zuvor mussten wir Abschied nehmen. Abschied von dem, was einmal unsere Erde und unser Himmel, unser vertrautes Leben war.
Wir hatten uns eingerichtet. Wir genossen den vertrauten Alltag. Das Miteinander mit unseren Lieben. Natürlich hatten wir nicht nur helle Sonnentage miteinander. Wir mussten auch düstere Regentage und so manches Gewitter aushalten. Doch kehrten nach einer Zeit des Schweigens, nach der klärenden Aussprache und Versöhnung die Sonnen-strahlen zurück in unser Leben. Wir waren froh und dankbar, sie an unserer Seite zu haben. Ihre Liebe und ihr Vertrauen geschenkt zu bekommen.
Doch dann, bei manchen plötzlich, bei anderen nach langer Krankheit, brach der Tod in unsere vertraute Welt hinein. Er riss uns auseinander. Er beendete, was vorher war. Und wir erfuhren: Die alte Welt ist dahin.

Der Schmerz des Verlustes

Der Tod unserer Lieben ist eine erschütternde Erfahrung. Er löst eine tiefe Trauer aus. Bei manchen ist der Schmerz des Verlustes überwältigend. Er ist so groß, dass man ebenfalls sterben möchte. Das ist nicht verwerflich. Im Gegenteil, der Wunsch zu sterben wird getragen von der Sehnsucht nach einer Wiederbegegnung. Er ist ein Zeichen innigster Liebe. Zur Liebe gehört der Schmerz des Verlustes. Wer liebt, wird diesen Schmerz früher oder später kennenlernen.
Im vergangenen Kirchenjahr bin ich diesem Schmerz auf den Friedhöfen oft begegnet. Als ich noch jünger war, hat mich das immer ziemlich mitgenommen. Mein Augenmerk war auf die Trauernden gerichtet. Sie taten mir leid. Ihr Schmerz machte mich betroffen. Zugleich wurde mir bewusst, dass auch ich in nicht allzu ferner Zeit mit diesem Schmerz an einem Grab stehen werde. Ich brauchte immer einige Zeit, um diese Gewissheit wieder zu verdrängen.
Inzwischen habe ich diese Erfahrung hinter mir. Ich kenne jetzt den Schmerz des Verlustes. Das hat einiges bei mir verändert. Ich weiche dem Schmerz nun nicht mehr aus. Ich weiß jetzt auch, dass er bleibt. Er geht nicht mehr weg. Ich muss mit ihm leben lernen. Wenn ich ihn jetzt bei einer Beerdigung erlebe, kommen mir die Verstorbenen in den Sinn. Ich weiß jetzt: Er oder sie wurde geliebt. Er oder sie durfte das Schönste in dieser alten und vergänglichen Welt erfahren: die Liebe eines anderen Menschen. Das teilen mir weinende Menschen mit ihrem Schmerz des Verlustes an den Gräbern mit.

Das Kommen der neuen Welt

Der Seher Johannes fordert uns heute zu einem Blickwechsel auf. Wenn wir an den Gräbern unserer Lieben stehen mit unserem Schmerz, dann blicken wir in der Regel zurück. Wir schwelgen in Erinnerungen an die gemeinsame Zeit. Johannes richtet unseren Blick nach vorne. Auf das, was kommt. Was er sieht, ist großartig: die heilige Stadt, das neue Jerusalem.
Die wie eine Braut herausgeschmückte Stadt kommt aus dem Himmel herab, teilt uns Johannes in seiner Vision mit. Die neue Welt kommt auf uns zu. Und wir gehen auf die neue Welt zu. Es findet also eine doppelte Bewegung statt. Sehen wir zunächst auf das Kommen der neuen Welt.
Gott ist unser Heil, ist das Geschenk der neuen Welt so wichtig, dass seine heilige Stadt vom Himmel zu uns herabsteigt. Wie Gottes Sohn an Weihnachten, wie der Engel an Ostern, so kommt auch das heilige Jerusalem zu uns herab. Gott will bei den Menschen wohnen. Jetzt, in der alten Welt, wohnt Gott bei uns mit dem Kommen des Heiligen Geistes. Dieser erweckt in uns den Glauben an das Kommen der neuen Welt. Dort werden wir nicht nur unsere Lieben wiedersehen. Gott selbst wird bei uns sein. Im himmlischen Jerusalem wird Gott unter uns und mit uns wandeln. Der Glaube an diese wunderbare Zukunft mildert den Schmerz des Verlustes. Er schenkt die Kraft, mit dem Schmerz weiterzuleben und sich noch für ein kurze Zeit einzurichten in dieser alten und vergänglichen Welt.

Unser Weg in die neue Welt

Was aber ist mit jenen, die daran nicht glauben? Die den Geist in ihren Herzen nicht spüren? Und das sind wir ja zu bestimmten Zeiten alle. Wer könnte von sich sagen, immer und überall vom Glauben an die neue Welt erfüllt zu sein? Der Glaube ist kein Besitz, über den wir verfügen können. Er wird uns von Gott geschenkt. Der Heilige Geist gibt den Glauben. Und das tut er, wie im „Augsburger Bekenntnis“ in Artikel 5 betont wird, „wo und wann er will“.
Das heißt aber nicht, dass wir ohne Hoffnung unseren Gang fortsetzen müssen. Wir können auch ohne Glauben auf die neue Welt zugehen. Wichtig ist, dass wir weiter auf sie zugehen. Dass wir weiter die gute Nachricht vom neuen Himmel und der neuen Erde vernehmen. Und zwar solange, bis Gott sich erbarmt, bis Gottes Geist in uns wirkt und unseren Schmerz zu lindern beginnt. Bis Gott schon hier, in dieser alten und vergänglichen Welt, meine Tränen abtrocknet, meine Trauer in eine himmlische Vorfreude und mein Klagen in ein erlöstes Lachen verwandelt. Bis sich in mir die Gewissheit festigt:


Gott, der Vater, der Allmächtige,
der Anfang und das Ende, das A und das O
wird unser Gott sein und macht alles neu.