Lesepredigt 3. Sonntag nach Trinitatis

28. Juni 2020
Predigt zu Micha 7,18-20
Pfr. Dr. Roland Liebenberg


Gottes Zorn und Gnade


Gottes Gefallen an der Gnade

Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im Buch des Propheten Micha. Dort lässt ein unbekannter Verfasser den Propheten Micha stellvertretend für die Gemeinschaft im 7. Kapitel folgenden Lobpreis beten:
Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinen Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an der Gnade!
Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen.
Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unsern Vätern vorzeiten geschworen hast.


Abgenutzte Gnade

Wer fragt heute noch nach einem gnädigen Gott, liebe Gemeinde? Dass Gott gnädig ist und den Sündern ihre Schuld vergibt, überrascht niemanden mehr. Was Luther vor 500 Jahren half, seine Angst und Verzweiflung zu überwinden, löst bei uns kaum noch etwas aus.
Jeden Sonntag hören wir von der grundlosen Barmherzigkeit Gottes in den Gottesdiensten. Wir reden vom lieben Gott, der es gut mit uns meint. Der uns trotz unserer Selbstsucht und Fehler immer wieder von Neuem annimmt. Gottes Gnade hat sich abgenutzt, weil wir sie als selbstverständlich betrachten.

Besondere Gnade

Deshalb dürfte es uns zunächst auch schwerfallen, den Lobpreis, der dem Propheten Micha in den Mund gelegt wurde, innerlich nachzuvollziehen. Verfasst wurde er wahrscheinlich während des babylonischen Exils. In einer Zeit, die für die Israeliten überschattet wurde vom Untergang des Königreiches Juda, von Unterwerfung, Zerstörung, Verschleppung und Hoffnungslosigkeit.
Für den überlebenden Rest des Volkes Israel wirkte der Lobpreis wahrscheinlich wie Balsam auf den verwundeten Seelen: Gott lässt ab von seinem Zorn und Gericht. Gott erlässt denen, die übrig geblieben sind, ihre Schuld. Gott hat Gefallen gefunden an der Gnade! Gott ist ein treuer Gott. Gott hält an Jakob, seinem Volk Israel, fest. Und Gott erweist Abraham, dem Vater vieler Völker, Gnade. „Wo ist solch ein Gott, wie du bist“, bekennen daher die Beterin und der Beter gleich am Anfang ihres Lobpreises.
Was machte die Erfahrung der Gnade für die Menschen damals so besonders? Was unterscheidet ihre Erfahrung der Gnade von unserer?

Die Rede vom Zorn Gottes

Meiner Ansicht nach ist es vor allem die Erfahrung von Gottes Zorn. Gott, wird im Lobpreis bejubelt, hält an seinem Zorn nicht ewig fest. Die erlebte Katastrophe und Gottes Zorn gehörten für die Israeliten zusammen. In vielen, oft zeichenhaften Reden hatten Micha und die anderen Propheten Gottes Zorn und Gericht über die Königreiche Israel und Juda angekündigt. Das assyrische und später das babylonische Heer wurden als Vollstrecker des göttlichen Zornesgerichts verstanden. Und Gottes Zorn dauerte mit der Not und dem Elend der Menschen an. Erst unser Lobpreis läutete eine Wende ein. Denn Gott hatte Gefallen an der Gnade gefunden.
Das klingt doch alles sehr fremd. Das Gott zornig auf uns ist und wie zu Zeiten der antiken Königreiche Israel und Juda ein katastrophales Gericht vollzieht, erscheint uns nicht mehr zeitgemäß. So kann man doch nicht mehr von Gott reden. Daher bevorzugen wir die Rede vom lieben und gnädigen Gott. Doch was wird aus der Rede von der Gnade Gottes, wenn sie den Zorn Gottes unterschlägt? Sie wird belanglos.
Ich tue mich auch schwer, vom Zorn Gottes zu reden. Ich finde es höchst problematisch Ereignisse in der Geschichte mit dem Willen und Handeln Gottes zu verknüpfen. Gott wird hierbei in der Regel zu einem Handlanger des Geschichtsdeuters erniedrigt. Es geht dann in der Regel nicht mehr um den Zorn Gottes, sondern um den Zorn des Predigers, den Gott gefälligst zu teilen hat. Doch soll man deswegen die Rede vom Zorn Gottes ganz aufgeben? Das verhindern die biblischen Texte. Sie reden wie der heutige Lobpreis unverdrossen vom Zorn Gottes, auch wenn es unbequem ist, auch wenn uns das damit verbundene Gottesbild nicht gefällt.

Gottes Zorn heute

Hat Gott denn keinen Grund mehr, zornig zu sein? Vielleicht beten wir keine anderen Götzen mehr an. Doch haben auch wir unsere Götzen. Es handelt sich zumeist um Götzen dieser Welt. Da wäre zum Beispiel der Götze des Profits. Wir bauen ihm zwar keinen Altar, doch liefern wir uns ihm auf Gedeih und Verderb aus. Selbst die jetzt stattfindende Klimakatastrophe ändert nichts daran. Das Wachstumsdogma wird weiter ohne Einschränkung vertreten, weil es angeblich keine andere Form des Wirtschaftens geben kann. Der Schutz und Erhalt von Gottes Schöpfung steht, wenn überhaupt, erst an zweiter Stelle. Erst kommt der Profit. Alles andere muss sich unterordnen. Der Profit ist unser Götze. Und wie es scheint, wird er es bis zum katastrophalen Ende der menschlichen Zivilisation bleiben.
Die soziale Ungleichheit ist heute genauso himmelschreiend wie in den Tagen des Propheten Micha. Das gilt auch für unser Land. An der Kluft zwischen Arm und Reich hat sich trotz des jahrzehntelangen Aufschwungs kaum etwas geändert. Die Realeinkommen sind zwar in der Breite gestiegen. Doch hat das nichts an der wachsenden Ungleichheit geändert. Das geht aus einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaft hervor, die Ende April veröffentlicht wurde. So stieg das Einkommen der bestverdienenden zehn Prozent der Haushalte seit dem Jahr 2000 um 22 Prozent. In der Mitte der Gesellschaft fiel das Plus nur halb so hoch aus. Für die zehn Prozent mit dem geringsten Einkommen hätte es überhaupt keine Steigerung gegeben, wenn nicht nach zähem Ringen im Jahr 2015 ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt worden wäre. Man muss wohl kein Prophet wie Micha sein, um vorherzusagen, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich durch die Corona-Krise weiter verschärfen wird.
Gott hätte also durchaus Grund auf uns zornig zu sein. Der Prophet Micha würde uns allen wahrscheinlich die Leviten lesen und Gottes Gericht ankündigen. Ich zögere, es ihm gleichzutun. Denn es ist letztlich meine Sichtweise der Welt. Sieht Gott es genauso? Erfahren auch wir in dieser katastrophalen Zeit gerade Gottes Zorn?
Das zu beantworten, liegt nicht in meiner Hand. Das kann nur Gott allein. Nur Gottes Geist kann Euch seinen Zorn über unser ungerechtes und zerstörerisches Reden und Handeln mitteilen, liebe Brüder und Schwestern. Wovon ich aber überzeugt bin, ist das: Sollte der Herr Euch seinen Zorn kundtun, dann werdet Ihr wieder nach seiner Gnade fragen. Dann wird euch der heutige Lobpreis der Gnade ein inneres Anliegen sein. Überrascht und erfüllt mit Dankbarkeit werdet auch Ihr bekennen:


Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld?