Lesepredigt zu Himmelfahrt

21. Mai 2020
Predigt zu Johannes 17,20-26
Pfr. Dr. Roland Liebenberg


Gemeinsam himmelaufwärts unterwegs


Jesus betet zum Vater

Der Predigttext für Christi Himmelfahrt ist dem 17. Kapitel des Johannesevangeliums entnommen:
Jesus erhob seine Augen zum Himmel und sprach: Vater, ich bitte nicht allein für die, die du mir gegeben hat, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, dass sie alle eins sein.
Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, auf dass die Welt glaube, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, auf dass sie eins seien, wie wir eins sind. Ich in ihnen und du in mir, auf dass sie vollkommen eins seien und die Welt erkenne, dass du mich gesandt hast und sie liebst, wie du mich liebst.
Vater, ich will, dass, wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast, damit sie meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast; denn du hast mich geliebt, ehe die Welt gegründet war.
Gerechter Vater, die Welt kennt dich nicht; ich aber kenne dich, und diese haben erkannt, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und werde ihn kundtun, damit die Liebe, mit der du mich liebst, in ihnen sei und ich in ihnen.


Himmelfahrtsaufziehen

In Anzing, gelegen im oberbayerischen Landkreis Ebersberg, wird Jahr für Jahr an Christi Himmelfahrt in der Pfarr- und Wallfahrtskirche St. Mariä Geburt ein seltenes Schauspiel geboten. Nach der Lesung des Evangeliums zum Himmelfahrtstag wird eine Christusfigur vom Kirchenboden bis hinauf zur Decke gezogen. Dort verschwindet der hölzerne Christus in einer Luke, dem so genannten Heilig-Geist-Loch.
Die Anzinger Gemeinde setzt mit diesem Schauspiel eine barocke Tradition aus dem 17. Jahrhundert fort. Christus, der seit Ostern noch einmal 40 Tage lang den Menschen die frohe Botschaft vom Reich Gottes verkündigte, steigt vor seinen Jüngerinnen und Jüngern in den Himmel auf und nimmt dort seinen Platz zur Rechten Gottes ein. In Anzing und wenigen anderen katholischen Kirchen wird das anschaulich mit dem Himmelfahrtsaufziehen demonstriert. Der Anzinger Christus ist geziert mit einem goldenen Überwurf, einer Siegesfahne und einem Heiligenschein aus drei Strahlen.

Nähe zu Christus

Es ist wohl nicht übertrieben, wenn ich behaupte, dass viele Menschen vor allem wegen dem Himmelfahrtsaufziehen die Anzinger Pfarr- und Wallfahrtskirche an Christi Himmelfahrt besuchen. Doch was vermittelt dieses Schauspiel den anwesenden Gottesdienstbesucher*innen? Der zur Decke schwebende Christus entfernt sich von der Gemeinde. Es entsteht eine Distanz. Und genau das ist das Problem. Denn die Botschaft an Christi Himmelfahrt lautet nicht Distanz, sondern Nähe zu Christus.
In unserem Predigttext betet Jesus zu seinem und unserem Vater, weil er den Menschen nahe sein will. Wie die Glieder der Jerusalemer Urgemeinde untereinander eins sein sollen, so sollen sie eins sein mit ihm und dem Vater im Himmel. Das ist der Wunsch und die Bitte des Auferstandenen: „Vater, ich will, dass, wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast.“
An Christi Himmelfahrt feiern wir die Nähe zu Christus. Wir sollen mit Jesus Christus eins sein, vereint untereinander und vereint mit Christus, so wie Christus eins ist mit Gott. Wie stellt sich der Evangelist Johannes das vor? Wie können wir hier auf Erden mit Jesus Christus eins sein, wenn er doch zur Rechten Gottes im Himmel sitzt?

Zeitgenossen des Messias

Indem wir zu Zeitgenossen des Messias werden. Das ist die Antwort, die der jüdische Philosoph Giorgio Agamben gibt. Zu Zeitgenossen Jesu Christi werden wir, wenn wir uns von ihm in sein Liebeswirken im Hier und Jetzt hineinführen lassen.
Das hat Konsequenzen wie wir die Welt wahrnehmen und wie wir mit dieser Wahrnehmung umgehen. Als Zeitgenossen des Messias nehmen wir das Leid in unserer Welt nicht nur für eine kurze Weile wahr, um uns dann angenehmeren Dingen zuzuwenden. Als Zeitgenossen des Messias geht uns das Leid in der Welt an. Wir wenden uns wie Jesus dem Leid zu.
Derzeit beschäftigt mich besonders die Isolation unserer Mitmenschen im hohen Alter. Um sie vor einer Corona-Infektion zu bewahren, sollen ihre Kontakte zu anderen Menschen auf das Nötigste beschränkt sein. Besonders in Seniorenheimen nimmt die Abkapselung von der Außenwelt manchmal unmenschliche Ausmaße an.
Ende April berichteten vier Frauen zwischen Mitte 80 und Mitte 90 im Norddeutschen Rundfunk, wie sie die Beschränkungen derzeit erleben. Eine 94-jährige Heimbewohnerin erzählte: „Meine Tochter und mein Schwiegersohn wohnen in Kiel. Die kommen einmal die Woche ins Pflegeheim nach unten in die Schleuse. Jemand sagt mir Bescheid, ich fahre dann mit dem Rollstuhl runter. Die stehen dann auf der einen Seite des Fensters und ich auf der anderen Seite. Wir sehen uns und winken uns zu, sprechen können wir nicht. Sie bringen mir dann eine Kleinigkeit, das wird auf einen Tisch gestellt. Das nehme ich dann mit nach oben, Süßigkeiten oder ein Duschgel.“

Als ich das las, musste ich schlucken. So stelle ich mir Besuche im Gefängnis vor. Ich frage mich: Musste man das einer 94-jährigen Frau wirklich antun? Kann man die Entscheidung über den Kontakt zu ihrer Familie, nicht dieser Frau überlassen? Hier gehen meines Erachtens die Schutzmaßnahmen zu weit.
Als Zeitgenosse des Messias tut es mir nicht nur im Herzen weh, wenn Menschen am Ende ihres Lebens so etwas erleiden müssen. Ich empfinde es als unerträglich. Und ich protestiere gegen diese Entmündigung unserer pflegebedürftigen Mitmenschen in den Seniorenheimen. Hier müssen andere, individuelle Wege gefunden werden, um Schutz und Freiheit in ein angemessenes Verhältnis zu bringen. Und zwar jetzt und nicht erst, wenn die nächste Pandemie über uns hereinbricht.

Gemeinsam unterwegs

Die Zeitgenossenschaft mit dem Messias führt uns über die Gegenwart hinaus. Sie überbrückt die Grenzen der Zeit. Vor knapp 2.000 Jahren begann in Galiläa und Jerusalem ein Geschehen, das uns heute erreicht. Es legt seine Hand auf uns. Macht uns eins mit dem Messias. Es verbindet uns untereinander. Und es verbindet uns mit allen, die an Jesus, den Messias, den Christus glaubten, glauben und glauben werden.
Wir alle sind gemeinsam mit dem Messias unterwegs. Wir reisen mit ihm gemeinsam in das Reich Gottes. Zur Resignation besteht daher kein Grund. Nicht in dieser und auch nicht in der kommenden Krise. Himmelaufwärts zieht nämlich nicht nur der Herr. Himmelaufwärts ziehen wir alle. Das sollten wir nicht vergessen angesichts des Leids in unserer Welt.
Wenn es uns dennoch das Herz zu zerquetschen droht, dann sollten wir uns an die Worte Jesu in seinem Gebet zum Vater erinnern:


„Vater, ich will, dass, wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast, damit sie meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast."