Lesepredigt Okuli 2021

07.03.3021
Predigt zu Eph 5,1-2.8+9
Pfr. Dr. Roland Liebenberg

Gottes Zutrauen

Die Aufforderung des Paulusschülers

Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im 5. Kapitel des Epheserbriefes. Dort wendet sich ein uns unbekannter Schüler des Apostels Paulus an die Gemeinde in Ephesus und mit ihr auch an uns mit folgender Aufforderung:

Ahmt Gott nach als geliebte Kinder und wandelt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat und sich selbst für uns gegeben hat als Gabe und Opfer, Gott zu einem lieblichen Geruch. […] Denn ihr wart früher Finsternis; nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. Wandelt als Kinder des Lichts. Die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.

Ein Jahr Ausnahmezustand

Vor genau einem Jahr, am Sonntag Okuli 2020, schrieb ich meine erste Corona-Lesepredigt. Der erste Lockdown war gerade von der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten verkündet worden. Mit einem Schlag durften wir keine Gottesdienste mehr feiern. Für mich war das ein Schock. Denn die „ungestörte Religionsausübung“ ist nach Artikel 4, Absatz 2 des Grundgesetzes ein Grundrecht. Ich hätte nicht gedacht, dass Grundrechte bei uns so einfach und schnell außer Kraft gesetzt werden können. Ich brauchte einige Zeit, um den ausgerufenen Ausnahmezustand als notwendig zu akzeptieren. Auch wenn ich bis heute davon überzeugt bin, dass wir auf die Pandemie auch mit anderen, differenzierteren und flexibleren Maßnahmen hätten reagieren können.

Wie dem auch sei, seit einem Jahr leben wir mit der Pandemie und dem Ausnahmezustand. Und ich erinnere mich noch gut daran, dass vor allem wir Kirchenvertreterinnen und -vertreter den Menschen trotz des Schocks Zuversicht zusprachen. Ich und viele meiner Kolleginnen und Kollegen gingen davon aus, dass diese außerordentliche Krise den Zusammenhalt und die Solidarität zwischen uns stärken wird. Das betonte am 20. März des vergangenen Jahres in einem Radio-Interview auch unser Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm. Die auferlegten Einschränkungen unserer Bewegungsfreiheit verstand er als ein Zeichen der gesellschaftlichen Solidarität mit jenen, die bei einer Erkrankung durch das Corona-Virus die beste medizinische Hilfe benötigen. Als er dann gefragt wurde, welche Folgen die Krise haben werde, zeigte sich Bedford-Strohm davon überzeugt, dass wir gestärkt aus ihr hervorgehen.

Fühlen wir uns gestärkt?

Ein Jahr danach ist Zeit zu fragen, ob er und ich und ein großer Teil unserer Kolleginnen und Kollegen recht hatten. Fühlen wir uns gestärkt? Nahm der Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Menschen zu?

Bevor Sie antworten, sollten Sie achtgeben. Denn so einfach, wie es ein wachsender Anteil in der Bevölkerung gerne hätte, sind derartige Fragen nicht zu beantworten. Das liegt vor allem an uns selbst. Denn wir Menschen sind widersprüchliche Wesen. Wir haben eine Anlage zum Guten. Wir wollen gute Menschen sein und anderen beistehen. Wir lehnen Gewalt ab und wünschen uns ein friedliches Miteinander. Zugleich ist bei uns aber auch ein unausrottbarer Hang zum Bösen anzutreffen. Es braucht nicht viel, ein paar hasserfüllte Reden, und wir fallen übereinander her wie die wilden Tiere. 

Der lutherische Pessimismus

Dessen war sich auch der Verfasser des Epheserbriefes bewusst. Dennoch fordert er uns auf, als „Kinder des Lichts“ zu wandeln und die Welt mit Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit etwas heller und freundlicher zu machen.

Woher nimmt er den Optimismus, dass wir dazu imstande sind? Gerade wir Lutheraner tun uns mit einem solchen Optimismus schwer. Wie Luther vertreten wir eher ein negatives Menschenbild. Wir neigen dazu, den Hang zum Bösen beim Menschen zu betonen. Deshalb erwarten wir keine Verbesserung durch die Corona-Krise.

Und gibt uns die steigende Arbeitslosigkeit und Armut in Deutschland nicht recht? Darauf wiesen am 4. Februar die Verbände in der Freien Wohlfahrtspflege hin. Trotz Kurzarbeitergeld und milliardenschwerer Hilfspakete für die Wirtschaft nahm die Arbeitslosigkeit und Armut in Deutschland im vergangenen Jahr zu. Die Frage, wie wir aus der Krise herauskommen, ist also ziemlich eindeutig zu beantworten: Die Krise hat den Zusammenhalt und die Solidarität unter uns geschwächt.

Gott traut es uns zu

Nein, so eindeutig verhält es sich nicht, antwortet uns heute der unbekannte Paulusschüler Denn entscheidend ist ja nicht unser Vermögen oder Unvermögen zu guten Taten. Entscheidend ist, dass Gott uns zutraut, als seine geliebten Kinder gute Taten zu vollbringen. Gott traut uns zu, als Kinder des Lichts zu wandeln.

Aus diesem Zutrauen Gottes uns gegenüber schöpfen wir die Kraft zu guten Taten. Gott lässt uns mit unserem Hang zum Bösen nicht allein. Gott steht uns bei. Das macht den Paulusschüler trotz der wachsenden sozialen Ungerechtigkeit optimistisch. Wir sind imstande, als Kinder des Lichts zu wandeln, weil Gott es uns zutraut und uns beisteht. Während wir vom Menschen her denken, denkt unser Briefschreiber von Gott her. Und wenn Gott uns zutraut, als Kinder des Lichts zu wandeln, dann sind wir mit Gottes Hilfe dazu auch imstande.

Die positiven Erkenntnisse der Krise

Aus dieser Perspektive erhalten wir auf die Frage, wie wir aus der Krise herauskommen, eine andere Antwort: Wenn wir Gottes Zutrauen ernst nehmen, kommen wir wirklich gestärkt aus ihr heraus.

Für unser Miteinander hat uns das vergangene Jahr enorm viele Lernerfahrungen beschert. Uns wurde zum Beispiel endlich wieder bewusst, dass sich die Stärke einer Gesellschaft nicht am Bruttosozialprodukt oder an den Börsenkursen bemisst, sondern daran, wie sie mit den Schwächsten, den Alten und Jungen umgeht. Unsere Gesellschaft hat hier gravierende Defizite, die verbessert werden müssen. Wäre uns das so bewusst ohne die schmerzhaften Erfahrungen im vergangenen Jahr? 

Außerdem haben wir erkannt, wer die wahren Leistungsträgerinnen und -träger unserer Gesellschaft sind. Und uns wurde deutlich vor Augen geführt wie schlecht Pflegerinnen oder Supermarktkassiererinnen für ihre systemrelevanten Dienste bezahlt werden.

Wir haben in den überfüllten Intensivstationen gesehen, wie wichtig eine breit aufgestellte Gesundheitsversorgung ist. Und im Umkehrschluss welch fatale Konsequenzen die bisherige, allein auf die Wirtschaftlichkeit schielende Gesundheitspolitik mit sich bringt.

Schließlich lehrt uns die Corona-Pandemie, wie sehr wir auf ein solidarisches Miteinander im Kampf gegen globale Krisen angewiesen sind. Egoismus und Nationalismus haben dagegen nur Streit, Gewalt und Elend zur Folge. Sie sind eine schlimmere Gefahr als das mutierende Corona-Virus.

Wenn Sie sich Zeit nehmen, fallen Ihnen bestimmt noch weitere positive Erkenntnisse ein. Nach einem Jahr Pandemie geht es darum, den Erkenntnissen Taten folgen zu lassen. Faule Ausreden darf und kann es nicht mehr geben. Denn auch das haben wir durch die Krise gelernt: Wer den Menschen ein Jahr Ausnahmezustand auferlegen kann, ist auch imstande, höhere Tarife bei den Pflegekräften oder die Wiederherstellung einer breit aufgestellten Gesundheitsversorgung durchzusetzen. Lassen wir unseren Erkenntnissen auch Taten folgen, wird der Zusammenhalt und die Solidarität zwischen uns zunehmen. Dann kommen wir tatsächlich gestärkt aus der Krise. Wir, liebe Schwestern und Brüder in Christus, werden unseren Teil dazu beitragen. Darauf vertraue ich. Denn Gott traut es uns zu.