Lesepredigt 7. Sonntag nach Trinitatis

26. Juli 2020
Predigt zu Hebräer 13,1-3
Pfr. Dr. Roland Liebenberg

Gott kommt zu Besuch

Vergesst die Gastfreundschaft nicht!

Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im 13. Kapitel des Hebräerbriefes:
Bleibt fest in der geschwisterlichen Liebe. Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt. Denkt an die Gefangenen, als wärt ihr Mitgefangene, und an die Misshandelten, weil auch ihr noch im Leibe lebt.

Besuch beim alten Professor

Erinnern Sie sich an einen Besuch, bei dem Sie Ihr Gastgeber und Ihre Gastgeberin außergewöhnlich aufmerksam und freundlich bewirtet hat? Wenn ich darüber nachdenke, kommt mir ein Besuch in den Sinn, der schon ziemlich lange her ist.
Nach meinem ersten kirchlichen Examen arbeitete ich an einem Forschungsprojekt mit. Mit zwei Kollegen untersuchte ich die Reform des Gottesdienstes in Bayern im 19. Jahrhundert. Das Projekt leitete ein alter Professor. Er war bereits im Ruhestand. Doch das hatte nichts zu bedeuten. Wissenschaftler sind auch als Rentner tätig. Eines Tages lud uns der Professor mit unseren Ehefrauen ein. Er wollte sich bei uns für unsere Arbeit bedanken. Ich war unsicher. Denn ich wusste nicht, was mich und meine Frau erwartet.
Uns erwartete eine Gastfreundschaft, wie ich sie bis dahin noch nicht erlebt hatte. Der Professor und seine Ehefrau hatten sich gründlich auf unseren Besuch vorbereitet. Bereits beim Empfang kümmerten sie sich mit großer Aufmerksamkeit um uns und alle anderen Gäste. Die Aperitifs, das Essen, die Dankesrede und Gespräche, alles war mit Bedacht vorbereitet, damit wir uns wohl fühlten. Soweit ich mich erinnern kann, gingen alle Gäste, mich und meine Frau eingeschlossen, mit einem Lächeln wieder nach Hause. Soviel Gastfreundschaft bekommt man nicht oft geschenkt. 

Der Wert der Gastfreundschaft

Welchen Stellenwert die Gastfreundschaft für uns Christinnen und Christen haben sollte, verdeutlicht uns der unbekannte Verfasser des Hebräerbriefes. Bei ihm handelte es sich um einen Gelehrten mit profunder Bildung. Er kannte sich in den biblischen Schriften sehr gut aus und war mit der antiken Kultur gegen Ende des 1. Jahrhunderts bestens vertraut. Wie sieht für uns Christinnen und Christen der Gottesdienst im Alltag aus? Was ist sein spezifisches Profil? Das fragte er sich bei der Abfassung unseres Predigttextes.
Ganz oben steht für ihn die geschwisterliche Liebe. Wie schon bei Jesus selbst ist sie die Grundlage unserer christlichen Existenz. Wo die Liebe ist, da findet der Gottesdienst im Alltag statt, da baut, stärkt und erhält Gott seine Gemeinde. Wie aber zeigt sich die Liebe in unserem Alltag? Woran kann man an unserem Reden und Handeln erkennen, dass da Gottes Liebe am Werk ist? Die Antwort des Hebräerbriefes lautet: Du erkennst sie zuallererst an der Gastfreundschaft. Deshalb mahnte er in seinem Brief, der eher eine Lesepredigt ist: Vergesst die Gastfreundschaft nicht!
In allen Religionen genießt die Gastfreundschaft, die freundliche Haltung gegenüber Besuchern oder Ankömmlingen, und die Bereitschaft, sie zu beherbergen, zu bewirten und zu unterhalten, einen hohen Stellenwert. In der jüdischen Religion ist sie sogar bedeutender als das Studium der Tora oder der Besuch des Gottesdienstes in der Synagoge.
Der Autor des Hebräerbriefes schärft den Gemeinden ein: genauso verhält es sich in der christlichen Religion. Auch für uns ist die Gastfreundschaft ein Gebot. Wer das Doppelgebot der Liebe ernst nimmt, achtet auch auf die Gastfreundschaft. Dessen Tür steht offen für eingeladene Gäste, aber auch für jene, die ohne Vereinbarung anklopfen.  
 
Gottes unverhoffter Besuch

Die Gastfreundschaft ist ein zentraler Bestandteil unseres alltäglichen Gottesdienstes. Das unterstreicht der Hebräerbrief mit dem Hinweis, dass wir mit dem Gast ohne unser Wissen einen Engel, also Gott beherbergen. Sicher dachte der Autor dabei an die Erzählung von Gottes Besuch bei Abraham in Mamre.
Der Nomade Abraham saß vor seinem Zelt. Da sah er drei Männer vor ihm stehen. Abraham lief ihnen entgegen, verneigte sich vor ihnen und lud sie zu sich ein. Er ließ Wasser bringen, wusch die Füße seiner Gäste, verköstigte sie mit Brot, servierte Kalbfleisch und trug Butter und Milch auf, bis sie satt waren. Abraham fühlte sich ein in die Bedürfnisse seiner Gäste und handelte entsprechend.
Mit den drei Männern hatte ihn Gott besucht. Und Gott genoss die Großzügigkeit und Freundlichkeit seines Gastgebers. Die Gastfreundschaft, wird in der Erzählung unterstrichen, ist Gottesdienst. Abraham bewirtete Gott. Und Gott erkannte die Not und den tiefsten Wunsch seines Gastgebers. Nach Gottes Besuch wurde Abrahams Frau Sarah trotz ihres Alters schwanger.

Segen des Gastes

Zur Gastfreundschaft als Gottesdienst gehört der Segen des Gastes. Das teilt uns die Erzählung von Gottes Besuch bei Abraham mit. Unser Segen als Gäste ist freilich bescheidener als der des Herrn in Mamre. Aber auch wir sind imstande, unsere Gastgeber mit einer segensreichen Botschaft zu beschenken. Oft reicht schon ein von Herzen kommendes, aufrichtiges Dankeschön, damit sich unsere Gastgeber von uns beschenkt, ja gesegnet fühlen.
Insofern haben wir alle wahrscheinlich schon sehr oft Engel, und mit ihnen Gott beherbergt. Überlegen Sie mal, wann Sie ihren letzten Engel bei sich eingeladen haben oder wann sie das letzte Mal selbst zu einem eingeladenen Botschafter Gottes wurden.

Notwendige Willkommenskultur

Das Gebot der Gastfreundschaft begrenzt der Hebräerbrief allerdings nicht nur auf jene Menschen, die uns nahestehen. Es schließt alle Menschen, auch die „Gefangenen“ und „Misshandelten“ mit ein. Was wäre das für eine Gastfreund-freundschaft, die auf wenige Menschen begrenzt ist? Sie wäre zutiefst heuchlerisch und verlogen.
Eine Gesellschaft, die das Gebot der Gastfreundschaft ernst nimmt, zeichnet sich durch eine Willkommenskultur aus. Wie dürftig diese Kultur in unserem Land ist, hat der frustrierende Ausgang der jüngsten „Flüchtlingskrise“ gezeigt. In Wahrheit war es ja eine Krise der staatlichen Institutionen, die für geflüchtete Menschen zuständig sind. Diese zeigten sich völlig überfordert. Es war dem großartigen freiwilligen Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger zu verdanken, dass die staatlichen Institutionen nicht zusammengebrochen sind.
An ihnen, den vielen Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft, wird es auch liegen, ob eine Willkommenskultur bei uns wieder aufblüht. Diese braucht natürlich Regeln und Grenzen. Doch müssen auch diese geprägt sein von einer menschenfreundlichen Gastfreundschaft. Blickt man auf die heillos überfüllten Flüchtlingslager in Griechenland und die untätige Europäische Union, sind wir derzeit weit davon entfernt.
Umso dringender ist es für die Kirchen und ihre Gemeinden, die derzeit verweigerte Gastfreundschaft wieder einzufordern. Für Christinnen und Christen ist und bleibt sie ein zentraler Bestandteil ihres alltäglichen Gottesdienstes. Denn mit den willkommenen Gästen kommt auch Gott zu Besuch. Ich beschließe meine Predigt zur Gastfreundschaft mit dem Beginn eines jüdischen Gastsegens:

Möge es Gottes Wille sein, dass der Hausherr in dieser Welt nicht beschämt und in der zukünftigen Welt nicht zuschanden werde.