Lesepredigt Jubilate 2020

3. Mai  2020
Predigt zu Johannes 15,1-8
Pfr. Dr. Roland Liebenberg


Wahre Gemeinschaft


Der Weinstock und seine Reben

Der diesjährige Predigttext für den vierten Sonntag der Osterzeit ist dem 15. Kapitel des Johannesevangeliums entnommen. Dort lauten die Verse 1 bis 8:
Christus spricht: Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner. Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, nimmt er weg. Und eine jede, die Frucht bringt reinigt er, dass sie mehr Frucht bringe. Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe.
Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht an mir bleibt. Ich bin der Weinstock und ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt die Reben und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen.
Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren. Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr Frucht bringt und werdet meine Jüngerinnen und Jünger.

Jubilate

Am heutigen Sonntag erklingt noch einmal der Jubel des Osterfestes, liebe Gemeinde. Der Beginn von Psalm 66 gibt ihm seinen Namen und bringt zum Ausdruck, warum wir uns vom Osterjubel weiter anstecken lassen: „Jauchzet (lateinisch Jubilate) Gott, alle Lande! Lobsinget zur Ehre seines Namens; rühmet ihn herrlich! Sprecht zu Gott: Wie wunderbar sind deine Werke!“
„Wie wunderbar sind deine Werke, Gott“, betet und singt die/der Psalmbeter*in. Wenn wir in diese Worte vier Wochen nach Ostern einstimmen, dann haben wir die Auferstehung im Sinn. Und mit der Auferstehung das Geschenk der ewigen Gemeinschaft mit Gott. Wir sind soziale Geschöpfe. Alle unsere Gaben sind dazu da, in Gemeinschaft mit Gott und unseren Mitmenschen zu leben. Ohne die alltäglich gelebte Gemeinschaft verkümmern wir, gehen wir innerlich und irgendwann auch äußerlich zugrunde. Deshalb schenkt uns Gott seine ewige Gemeinschaft und führt Menschen mit seinem Geist der Liebe immer wieder neu zusammen.

Das Bild vom Weinstock

Gemeinschaft, das ist auch das Thema des heutigen Predigttextes. Er ist Bestandteil der zweiten Abschiedsrede Jesu im Johannesevangelium. Jesus stimmt als Rabbi seine Schülerinnen und Schüler auf die bevorstehende Trennung ein. Hat er ihnen in seiner ersten Rede versprochen, mit seinem Geist weiter bei ihnen zu sein, ermahnt er sie jetzt, in ihm zu bleiben, um ein gutes, von Liebe erfülltes Leben in Gemeinschaft mit ihm und untereinander führen zu können.
In seiner Rede verwendet Jesus das Bild vom Weinstock und den Reben. Damit knüpft der Evangelist Johannes an die biblische Tradition von Israel als einen von Gott gepflanzten Weinstock an. Was für das Volk Israel als Ganzes gilt, ist hier auf Jesus konzentriert: Für Johannes ist Jesus der „wahre Weinstock“, eine wirkliche Pflanzung Gottes. In ihm und durch ihn wirkt Gott. Deshalb kann Jesus die Gemeinschaft mit seinen
Jüngerinnen und Jüngern aufrechterhalten. Jesus bleibt mit uns verbunden. So kann er uns helfen, dass auch wir miteinander in Liebe verbunden bleiben.
Die Frucht, die wir durch unsere Verbindung mit unserem wahren Weinstock bringen können, ist die Liebe, die wir uns gegenseitig schenken. Insofern ist auch die in Liebe verbundene Gemeinschaft, die wir in unseren Familien, in unseren Kirchengemeinden, in unseren Dörfern, Stadtteilen und an anderen Orten pflegen, eine Frucht der Verbundenheit mit unserem Bruder und Herrn. Wer mit Jesus nicht verbunden ist, wer nicht von der Liebe Gottes erfüllt ist, wer nur um sich selbst kreist und das eigene Ego pflegt, verkümmert und verdorrt wie die Geiztriebe, die bei der Veredelung der Rebe abgeschnitten werden.

Sehnsucht nach Gemeinschaft

In unserem Leben gab es wohl keine Zeit wie die jetzige, die uns lehrt, wie wichtig für uns die Erfahrung von Gemeinschaft ist. Über sechs Wochen leben wir jetzt schon mit der Kontaktsperre aufgrund der Corona-Krise. In mir nimmt die Sehnsucht nach Gemeinschaft täglich zu. Ich sehne mich nach einem unbeschwerten Miteinander in der Familie und in den beiden Kirchengemeinden. Ich möchte meine Lieben, meine Freundinnen und Freunde, meine Glaubensgeschwister wieder treffen können und nicht mehr auf den elenden „sozialen Abstand“ achten müssen.
Schon vor einigen Wochen bekam ich auf meine Lesepredigten während der Corona-Krise eine Rückmeldung, die deutlich aufzeigt, wie sehr wir die konkrete Erfahrung von Gemeinschaft benötigen: „Lieber Roland, vielen Dank für die Predigten, die du uns immer schickst. Ich lese sie. Auch wenn ich mich dazu in die Kirche setze, fehlt der Pfarrer und die Gemeinde. Ich hoffe sehr, dass in naher Zukunft die Beschränkungen ein wenig gelockert werden und Gottesdienste und Feiern im kleinen Rahmen wieder erlaubt sind.“

Wahre Gemeinschaft

In dieser Zeit des sozialen Abstands hat sich in mir zudem die Überzeugung gefestigt, dass die digitale Welt die Erfahrung von Gemeinschaft nicht ersetzen kann. Im Gegenteil, die zunehmende Digitalisierung unseres Lebens ist meines Erachtens der maßgebliche Grund für die fortschreitende Vereinsamung und innere Verkümmerung der Menschen in unserer Gesellschaft. Die Zeit, die wir in den virtuellen Räumen des Internets verbringen, nimmt immer mehr zu. Der Zwang zum Home-Office oder zur digitalen Schule in den vergangenen Wochen dürfte diese Entwicklung noch weiter festigen. Auch die Kirchen haben ihre digitalen Gottesdienstangebote in den vergangenen Wochen ausgebaut. Es dürfte ziemlich sicher sein, dass dieses Angebot auch nach der Krise für notwendig erachtet wird.

Doch was sind das für Gottesdienste? Es sind und bleiben anonyme Gottesdienste auf Distanz, ohne die Erfahrung von sozialer Nähe, Vertrautheit und Gemeinschaft. Für den Prediger oder die Predigerin mögen derartige Gottesdienste vielleicht Erleichterungen mit sich bringen, sieht man vom technischen Aufwand einmal ab. Mit einem Teleprompter könnte man rhetorisch geschliffene Reden so wirken lassen, als wären sie frei
gesprochen. Das macht bestimmt Eindruck beim Publikum an den Bildschirmen.
Die Zahl der anonymen Besucher*innen der Gottesdienste im Internet mag vielleicht höher sein als die der geringer werdenden Gottesdienstbesucher*innen in den Kirchen. Doch in der Kirche erlebe ich eine wahre Gemeinschaft, auch wenn sich nur zwei oder drei im Namen Jesu Christi zu einem Gottesdienst versammeln. Ich erlebe mit allen Sinnen, mit Leib und Seele die Gemeinschaft mit meinen Geschwistern und unserem Bruder und Herrn. Deshalb freue mich sehr, dass wir ab dem kommenden Sonntag wieder Gottesdienste unter beschränkten Bedingungen in unseren Kirchen feiern dürfen. Dass wir uns miteinander freuen über die Frucht bringende Gemeinschaft mit Jesus, unserem wahren Weinstock, und gemeinsam lobsingen:

Wie wunderbar sind deine Werke, Gott!