Lesepredigt 11. Sonntag n. Trinitatis

15. August 2021
Epheser 2,4-10
Pfr. Dr. Roland Liebenberg


Christliche Demut


Gottes Gabe

Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im Epheserbrief. Dort schreibt ein Schüler des Paulus im 2. Kapitel:

Gott, der reich ist an Barmherzigkeit, hat in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, auch uns, die wir tot waren in den Sünden mit Christus lebendig gemacht. Aus Gnade seid ihr gerettet!

Und er hat uns mit auferweckt und mit eingesetzt im Himmel in Christus Jesus, damit er in den kommenden Zeiten erzeige den überschwänglichen Reichtum seiner Gnade durch seine Güte gegen uns in Christus Jesus. Denn aus Gnade seid ihr gerettet durch Glauben, und nicht aus euch: Gottes Gabe ist es, nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme. Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, dass wir darin wandeln sollen.


Inflation der Demut

„Wenn sie Tag für Tag unter dem Wissen des Tages entscheiden müssen, können sie auch falsche Entscheidungen gefällt haben. Das kann eine finanzielle Entscheidung sein. Das kann eine gesetzliche Entscheidung sein. Das kann auch das falsche Abwägen gewesen sein. Es kann sehr sehr vieles sein. Und dass man irgendwann in einem halben oder dreiviertel Jahr viel schlauer ist. Dann werden viele behaupten, sie hätten es immer schon gewusst. Dass man das im Blick haben muss und rückwirkend sagen kann: Möglicherweise war das eine oder andere falsch. Das, finde ich, gehört auch zur Demut in dieser entscheidungs-reichen Zeit hinzu.“

So äußerte sich im vergangenen Jahr Kanzlerkandidat Armin Laschet im ZDF-Sommerinterview. Ich fand einen Ausschnitt davon bei meiner Recherche zum Thema Demut. Ich ging eigentlich davon aus, dass die Demut in unseren Tagen kaum noch eine Rolle spielt. Doch weit gefehlt! Das Umgekehrte ist der Fall. Die Demut ist voll im Trend. Sie wird insbesondere von Politikerinnen und Politikern sehr oft in den Mund genommen.

Armin Laschet scheint sich selbst als ein Politiker der Demut zu begreifen. Damit steht er freilich nicht alleine da. Beinahe alle gewählten Amtsträgerinnen und -träger wollen ihre Verantwortung demütig ausüben. „Ich nehme die Verantwortung mit großer Demut an“, sagte etwa der österreichische Kanzler Sebastian Kurz unmittelbar nach seinem Wahlsieg im Jahr 2018. Aber auch in anderen Branchen kann sich die Demut einer enormen Popularität erfreuen. Etwa im Finanzsektor. Als dieser nach der Finanzkrise im Jahr 2008 wieder Riesengeschäfte machte, verlautbarte einer der wichtigsten Investment-banker bei Goldman Sachs, dass es seiner Branche gut anstünde, sich in kollektiver Demut zu üben.

Demut als Machtmittel

Als mir klar wurde, wie hoch die Demut derzeit im Kurs steht, wurde ich stutzig. Sind die Verantwortlichen in der Politik oder in der Wirtschaft demütig geworden? Oder sprechen sie von der Demut nur, um in der Öffentlichkeit in einem guten Licht dazustehen? Keineswegs will ich dem Kanzlerkandidaten und Katholiken Laschet die Ernsthaftigkeit seiner demütigen Haltung in der Politik absprechen. Das kann ich auch nicht. Dennoch erscheint mir der häufige Verweis auf die Demut bei den Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft fragwürdig.

Bestätigt wurde dieser Eindruck durch das Job- und Karriereportal „Karrierebibel“. Auf der häufig angeklickten und zitierten Internetseite bekennt man sich offen zu dem Ziel, Karrieristen alle Tricks beizubringen, die man auf dem Weg nach oben beherrschen muss. Zur Demut wird unter anderem folgendes festgehalten:

„Die Demut ist ein enorm unterschätztes Machtmittel. Kaum einer rechnet damit, dass hinter der Offenbarung von Schwäche ein Täuschungsversuch stecken könnte, der die anderen lediglich einlullen soll. Oft dienen gerade öffentliche Selbsterniedrigungen … nur dazu, den eigenen Status zu heben und Machtansprüche durchzusetzen.“

Die „Karrierebibel“ lehrt die falsche, unechte Demut. Bei ihr wird sie nur vorgegaukelt und zur Schau gestellt. Sie ist nicht echt. Die öffentlich zur Schau gestellte Demut dient im Grunde nur dem Hochmut der Karrieristen.

Demut vor Gott

Mit der Demut, die Jesus in seinem Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner anspricht, hat die „Karrierebibel“ nichts am Hut. Denn Jesus verlangt von uns, dass wir uns selbst hintansetzen. Dass wir nicht auf uns und unser Fortkommen blicken, sondern auf die Ehre Gottes und das Wohl unserer Mitmenschen. Diese Botschaft entnehme ich auch unserem Predigttext aus dem Epheserbrief.

Dass unser Leben mehr ist als nur ein kurzer und trostloser Augenblick, dass wir mehr sind als nur Sternenstaub, dass wir Hoffnung haben dürfen über den Tod hinaus, ist nicht unser Verdienst. Das verdanken wir allein der Gnade Gottes. Der allmächtige Gott hat uns „mit seinem Sohn lebendig gemacht“. Der unbekannte Verfasser des Epheserbriefes, ein Schüler des Paulus, wird nicht müde zu betonen, dass wir unsere Rettung aus der Todesverfallenheit allein der Gnade Gottes verdanken: „Denn aus Gnade seid ihr gerettet durch Glauben, und nicht aus euch: Gottes Gabe ist es, nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme.“

Vor Gott gibt es keinen Ruhm für den Menschen. „Was hast du“, schreibt Paulus im ersten Brief an die Korinther, „was du nicht empfangen hast? Und wenn du empfangen hast, was rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?“ Vor Gott hat der Mensch nichts vorzuweisen. Vor Gott, unterstreichen Paulus und sein unbekannter Schüler, ist der Mensch ein Empfangender, ein Beschenkter. Gottes Geschenk des ewigen Lebens können wir nur dankbar annehmen. Denn verdient haben wir es nicht. Wir haben es allein der Liebe und Gnade Gottes zu verdanken. Das anzuerkennen und danach zu reden und zu handeln, dafür steht die christliche Demut.

Frei für ein gutes Leben

Oft ist von Demut im Zusammenhang von Unterordnung und Gehorsam die Rede. Gerade auch im Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Der Mensch wird als Knecht und Untertan eines allmächtigen Herrn verstanden. Eines Herrn, dem man sich nur unterwerfen kann. Demut wird so zur Demütigung.

Jesus, Paulus und unser Paulusschüler weisen in eine andere Richtung. Denn die von Gott uns erwiesene Gnade hat nicht den Zweck, uns zu demütigen. Sie will uns aufrichten. Sie will uns Mut machen für das richtige, das gute Leben. Für ein Leben, das sich als ein Dasein für andere begreift.

Die Demut, die Jesus, Paulus und unser Paulusschüler im Sinn haben, führt uns nicht in die Knechtschaft. Im Gegenteil, sie macht uns frei für das richtige, das gute Leben. „Denn wir sind sein Werk“, betont am Ende unser Predigttext, „geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, dass wir darin wandeln sollen.“

Die christliche Demut macht uns frei für ein gutes Leben, für ein Leben das dem Gemeinwohl dient. Im Unterschied zur falschen Demut in der „Karrierebibel“ hätte unsere Gesellschaft diese Demut bitter nötig.