Lesepredigt 3.So.n. Epiphanias

24.02.2021
Predigt zu Rut 8,19a
Roland Liebenberg


Lasst uns Mensch sein


Rut zieht mit Noomi nach Bethlehem

Der Predigttext für den heutigen Sonntag ist dem Buch Rut entnommen, liebe Gemeinde. Im ersten Kapitel wird die Flucht aus Bethlehem von Elimelech und Noomi und deren Söhne Machlon und Kiljon erzählt. Sie zogen nach Moab, weil in Juda eine Hungersnot ausgebrochen war. Nach dem Tod von Elilemelech heirateten Noomis Söhne moabitische Frauen. Als auch ihre Söhne starben, entschied sich Noomi nach Bethlehem zurückzukehren.

Ihre Schwiegertöchter will sie entlassen, damit sie zu ihren Familien zurückkehren können. Geht hin und kehrt um, sagte sie zu Orpa und Rut, eine jede ins Haus ihrer Mutter! Der Herr tue an euch Barmherzigkeit, wie ihr an den Toten und an mir getan habt. Der Herr gebe euch, dass ihr Ruhe findet, eine jede in ihres Mannes Hause! Und sie küsste sie.

Da erhoben sie ihre Stimme und weinten und sprachen zu ihr: Wir wollen mit dir zu deinem Volk gehen. Aber Noomi sprach: Kehrt um, meine Töchter! Warum wollt ihr mit mir gehen? Wie kann ich noch einmal Kinder in meinem Schoße haben, die eure Männer werden könnten? Kehrt um, meine Töchter, und geht hin; denn ich bin nun zu alt, um wieder einem Mann zu gehören. Und wenn ich dächte, ich habe noch Hoffnung, und diese Nacht einem Mann gehörte und Söhne gebären würde, wolltet ihr warten, bis sie groß würden? Wolltet ihr euch einschließen und keinem Mann gehören? Nicht doch, meine Töchter! Mein Los ist zu bitter für euch, denn des Herrn Hand hat mich getroffen.

Da erhoben sie ihre Stimme und weinten noch mehr. Und Orpa küsste ihre Schwiegermutter. Rut aber ließ nicht von ihr. Noomi aber sprach: Siehe, deine Schwägerin ist umgekehrt zu ihrem Volk und ihrem Gott; kehre auch du um, deiner Schwägerin nach. Rut antwortete: Bedränge mich nicht, dass ich dich verlassen und umkehren sollte. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will auch ich begraben werden. Der Herr tue mir dies und das, nur der Tod wird mich von dir scheiden.

Als Noomi nun sah, dass Rut festen Sinnes war, mit ihr zu gehen, ließ sie ab, ihr zuzureden. So gingen die beiden miteinander, bis sie nach Bethlehem kamen.


Ein ernüchterndes Wiedersehen

Von Rut und Noomi zu einer Begegnung in unseren Tagen: Lange hatte er seinen Freund nicht mehr gesehen. In früheren Zeiten hatten sie viel miteinander unternommen. Deshalb freute er sehr, als sie sich wieder einmal trafen. Sie erzählten sich, wie es ihnen in den letzten Jahren ergangen war. Tauschten sich aus über gemeinsame Freunde und was aus ihnen geworden war. Dann wollte er von seinem Freund wissen, ob er immer noch so engagiert sei. Als er ihn kennenlernte war dieser ein überzeugter Kriegsgegner und Pazifist. Diese Zeiten seien für ihn längst vorbei, teilte ihm sein Freund mit. So naiv sei er schon lange nicht mehr.

Und dann fiel das Stichwort „Flüchtlinge“. Mit einem Schlag war ihr Gespräch ein anderes. Der Gesichtsausdruck seines Freundes verfinsterte sich. Mit denen wolle er nichts zu tun haben. Die seien doch alle kriminell. Die sollten gefälligst bleiben, wo sie sind. Er fragte seinen Freund, ob er geflüchtete Menschen kenne und schlechte Erfahrungen gemacht habe. Nein. Und er habe auch nicht vor, welche zu treffen. Ihm reiche, was er in den Medien erfahre. Dann verabschiedete sich sein Freund von ihm und ließ ihn am Tisch alleine zurück.

Die Angst vor dem fremden Menschen

Auch wenn derzeit alles von der Corona-Pandemie überdeckt wird, sind wir mit dem Flüchtlingsthema noch lange nicht durch. Es wird zwar in Politik und Gesellschaft derzeit totgeschwiegen. Wenn es dann aber doch in den Vordergrund rückt, kochen häufig die Emotionen hoch.

In der Regel sind es negative Emotionen. Geflüchtete Menschen sind fremde Menschen. Und solche rufen, ob nun berechtigt oder nicht, Ängste und Befürchtungen hervor. Besser wird es meist erst dann, wenn wir fremde Menschen kennenlernen. Wenn wir erfahren, dass sie eigentlich ganz nett sind. Dass sie ähnliche Wünsche und Hoffnungen, Sorgen und Ängste haben wie wir selbst. Dann kann aus dem fremden Menschen ein geschätzter Mitmensch werden.

Worum es im Buch Rut geht


Damit aus einem fremden Menschen ein geschätzter Mitmensch werden kann, müssen wir Grenzen überschreiten. Wir müssen auf den anderen, uns fremden Menschen zugehen und eine Beziehung herstellen.

Das ist die erste und wohl wichtigste Botschaft, die ich dem Buch Rut entnehme. In ihm geht es von der ersten bis zur letzten Seite um persönliche Beziehungen: „zwischen Moabiterinnen und Israelitinnen, zwischen Alt und Jung, Jung und Alt, von Frau zu Frau, von Mann zu Frau“.

Für den vor zwei Jahren verstorbenen israelischen Schriftsteller Amos Oz geht es im Buch Rut „darum, Mensch zu sein, Unheil zu vermeiden und Hoffnung für die Zukunft zu erwecken“. Und das schaffen die Moabiterin Rut und die Israelitin Noomi, indem sie Grenzen überschreiten, auf andere zugehen und persönliche Beziehungen herstellen.

Vom Stellenwert der Grenzüberschreitung

Die Bereitschaft, Grenzen zu überschreiten, hat in der jüdischen und christlichen Tradition einen herausragenden Stellenwert. Die Bibel kann man als ein Buch der Grenzüberschreitung lesen.

Gott überschreitet zuerst die Grenze zwischen sich und seiner Schöpfung. Eva und Adam überqueren die Grenze des Paradieses. Abraham verlässt seine Heimat und zieht nach Kanaan. Jakob zieht von dort mit seiner Familie nach Ägypten. Das Volk Israel flieht vor der dortigen Sklaverei in das gelobte Land.

Ich könnte jetzt fortfahren bis zu den grenzüberschreitenden Missionsreisen des Apostels Paulus. Und erzählen nicht auch die Weihnachtsgeschichten der Evangelisten Lukas und Matthäus von einer wunderbaren Grenzüberschreitung Gottes?

Immer geht es dabei um persönliche Beziehung. Um die persönliche Beziehung zu Gott. Und um die persönliche Beziehung zum Mitmenschen. Keine Grenze darf sich der Beziehung zu Gott und den Mitmenschen entgegenstellen. Keine ethnische Grenze, keine nationale Grenze, keine familiäre Grenze. Auch keine religiöse Grenze. Das unterstreicht das Bekenntnis der Moabiterin Rut zum Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.

Lasst uns Mensch sein

Dass es diese grundlegende biblische Botschaft derzeit vor allem in den religiösen Gemeinschaften schwer hat, dürfte Ihnen wahrscheinlich nicht  entgangen sein.

Überall auf der Welt tragen fundamentalistische Christen, islamistische Muslime, ultraorthodoxe Juden oder nationalistische Hindus zur Trennung zwischen den Menschen bei. Sie errichten Grenzen, schüren Ängste, verhindern Beziehung, spalten Gesellschaften.

Ihre oft hasserfüllten Reden und Handlungen sind ein fundamentaler Widerspruch zur Botschaft, die wir heute aus dem Buch Rut vernehmen. Rut war die Beziehung zu Noomi wichtiger als alles andere. Ihre Grenzüberschreitung hatte ihr gezeigt, was den Menschen zum Menschen macht: die offene, ehrliche und liebende Beziehung zum Mitmenschen. Nichts ist für unser Miteinander wichtiger als das.

Lasst uns daher diese Botschaft beherzigen, liebe Schwestern und Brüder. Lasst uns Grenzen überschreiten, wie es Gott seit der Erschaffung der Welt unablässig tut. Lasst uns auf die Beziehung zu unseren Mitmenschen achten. Ja, lasst uns Mensch sein, Unheil vermeiden und Hoffnung für die Zukunft erwecken.