Lesepredigt 4. So.n. Trinitatis

27.06.2021
Predigt zu Gen 50,15-21
Pfr. Dr. Roland Liebenberg


Gottes guter Plan


Josef und seine Brüder

Der Predigttext steht im 1. Buch Mose im 50. Kapitel. Dort wird erzählt:

Die Brüder Josefs fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als man ihm solches sagte.
Und seine Brüder gingen selbst hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.


Streit in der Familie

Als die Eltern noch lebten, kamen sie einigermaßen gut miteinander aus. Mutter und Vater hielten die Familie zusammen. Dann starb der Vater und kurz darauf die Mutter. Wie eine Klammer hatten die Eltern die Familie zusammengehalten. Sie luden die Kinder und ihre Familien zu sich ein, kochten für sie und sorgten so für regelmäßige Treffen. Wenn sie kamen, war das alte Haus proppenvoll. Die gemeinsamen Sonntage waren nicht immer harmonisch. Manchmal gab es auch Streit. Doch den wussten die Eltern in Zaum zu halten. „Am Sonntag“, pflegten sie zu sagen, „am Sonntag wird nicht gestritten.“

Jetzt waren die Eltern nicht mehr da. Und die Konflikte, die einer Klärung bedurft hätten, brachen mit voller Wucht zwischen den Geschwistern aus. Verschärft wurden sie durch Erbfragen. Als es ums Geld ging, wurde es wirklich schlimm. Böse Unterstellungen und Beleidigungen warfen sie sich gegenseitig an den Kopf. Alle fühlten sich im Recht und niemand wollte nachgeben. Die Familie brach auseinander. Inzwischen sprechen die Geschwister nur noch über ihre Anwälte miteinander.

Der gehasste Bruder

Derartige Streitigkeiten sind eher die Regel als die Ausnahme. In ihnen geht es nur auf den ersten Blick ums Geld. Oft stecken Verletzungen dahinter. Verletzungen, die im Laufe des Lebens die Seele verdunkelt haben. Etwa das Gefühl, dass man von den Eltern ständig benachteiligt wurde. Oder zu wenig Anerkennung für die erbrachten Leistungen bekam. Spricht man derartige Gefühle nicht an, wird der Bruder oder die Schwester, die mehr Liebe und Anerkennung bekommt, zum Hassobjekt. Am liebsten würde man ihn oder sie …

So war es auch bei Josef. Sein Vater Jakob liebte ihn besonders. Denn Jakob hatte ihn im hohen Alter bekommen. Als die anderen Söhne sahen, dass Jakob Josef lieber hatte als sie, fingen sie an ihn zu hassen. Sie beschlossen, ihren Bruder zu töten. Die Brüder schreckten zwar am Ende zurück vor der Bluttat, verkauften Josef aber als Sklaven. Ihrem Vater Jakob erzählten sie, dass er von einem wilden Tier getötet wurde.

Die Furcht der Brüder

Josef verschlug es nach Ägypten. Mit Gottes Hilfe machte er dort eine sagenhafte Karriere. Aus dem Sklaven mit der Gabe, Träume zu deuten, wurde der Stellvertreter des Pharao. Josef übernahm die Verantwortung für die Versorgung des Volkes. Da er mit einer Dürre rechnete, ließ er in den guten Erntejahren ausreichend Getreide in die Speicher bringen. So war Ägypten für die Krise gewappnet. Die Menge an gelagertem Getreide war so groß, dass es auch ausländischen Käufern angeboten werden konnte.

Als in Kanaan wegen der Dürre eine große Hungersnot ausbrach, verschlug es auch Josefs Brüder nach Ägypten. Jakob hatte sie beauftragt, Getreide zu kaufen. Josef gab sich seinen Brüdern nach einiger Zeit unter Tränen zu erkennen. Er ließ seinen Vater Jakob und die ganze Familie nach Ägypten holen. Dort wurden sie unter der Obhut Josefs sesshaft, waren fruchtbar und mehrten sich.

Oberflächlich betrachtet, war alles gut. Doch als Jakob starb, bekamen es die Brüder mit der Angst zu tun. Eine wirkliche Aussprache mit Josef hatte es zu Jakobs Lebzeiten nicht gegeben. Die Brüder wussten nicht, was Josef über sie dachte, was er mit ihnen vorhatte. Angesichts dessen, was sie ihm angetan hatten, erwarteten sie nichts Gutes.

Gottes Absicht mit Josef

Wenn ich auf die Familienkonflikte schaue, die mir bekannt sind, dann war die Furcht der Brüder durchaus berechtigt. Zerrüttete Familien finden nur in den seltensten Fällen wieder zusammen. In der Regel wird ein Großteil der Lebensenergie für den Zorn und Hass gegen die Geschwister oder andere Familienangehörige verschwendet.

Bei Josef war das nicht der Fall. Was bewahrte ihn vor der blutigen Rache? Warum wurde aus Josef kein rächender Graf von Monte Christo? War es sein sagenhafter beruflicher Aufstieg, der ihn für das erlittene Unrecht reichlich entschädigte? Oder war es die charakterliche Reife, die ihn schon als Sklaven auszeichnete? Oder war es am Ende die Einsicht der Brüder, eine herzlose und böse Tat begangen zu haben und Josef dafür um Vergebung zu bitten?

Das alles spielte sicherlich eine Rolle. Für eine Versöhnung braucht es auf beiden Seiten auch die Bereitschaft dazu. Bei den Tätern braucht es die Bereitschaft, Schuld zu bekennen, sie zu bereuen, um Vergebung zu bitten und sein Leben, wenn nötig, zu ändern. Bei den Opfern braucht es die Bereitschaft, auf Rache zu verzichten und zu vergeben, wenn aufrichtig darum gebeten wird.

Josef wollte die Beziehung zu seiner Familie nicht kappen. Ihm lag daran, sie mit seinen Geschwistern neu zu entwickeln, neu zu gestalten. Die böse Tat seiner Brüder kehrte er dabei nicht einfach unter den Teppich. „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen“, hält er ihnen ohne Umschweife vor.

„Aber Gott dachte es gut zu machen“, ergänzte er seinen Vorwurf. Und darauf kam es Josef letztlich an. Gott hatte die böse Tat der Brüder zu einem guten Ziel geführt. So war es für Josef nicht ihre böse Tat, die ihn nach Ägypten verschlug. Es war Gott, der ihn nach Ägypten brachte. Es war Gottes Plan, Josef dorthin zu senden. Denn in Ägypten sollte er viele Leben retten.

Gottes guter Plan

Die böse Tat wird so zu einem Bestandteil eines guten Planes. Das macht die böse Tat nicht besser. Nichts wird beschönigt. Die Schuld muss offen angesprochen und vom Täter oder den Tätern eingestanden werden. Zugleich aber verliert die böse Tat ihre Macht über alle Beteiligten.

Indem Gott die böse Tat in seinen guten Plan hineinnimmt, verändert sich bei den Beteiligten die Blickrichtung. Sie starren nicht mehr nur auf die böse Tat. Sie blicken darüber hinaus. Sie nehmen Gottes guten Plan wahr. Das half Josef, seinen Zorn und seine Rachegefühle gegenüber den Brüdern zu überwinden.

Gottes guter Plan, wie sieht er für uns aus? Jesus hat ihn uns mitgeteilt. Auch wir dürfen uns wie das Volk Israel zu den Kindern Gottes zählen. Unser Weg führt in Gottes ewiges Reich. Das ist Gottes Plan für uns. Wenn uns das im Herzen gewiss wird, dann verlieren die Konflikte, mit denen wir uns in unseren Familien oder anderswo herumschlagen, ihre Macht über uns. Wir können von ihnen Abstand nehmen. Auch wenn sie uns belasten, beherrschen sie uns nicht mehr.

Wir werden frei, frei wie Josef. Wie er finden wir mit Blick auf Gottes guten Plan die innere Kraft zur Versöhnung. Die Kraft, auf andere zuzugehen, sie zu trösten und freundlich mit ihnen zu reden.