Lesepredigt Ostersonntag

04.04.2021
Predigt zu 2 Mose 14,8-14
Pfr. Dr. Roland Liebenberg


Befreiung von der Angst


Am Meer bei Pi-Hahirot

Der Predigttext für den Ostersonntag steht im zweiten Buch Mose. Dort wird im 14. Kapitel erzählt:

Der Herr verstockte das Herz des Pharao, des Königs von Ägypten, dass er den Israeliten nachjagte. Aber die Israeliten waren mit erhobener Hand ausgezogen. Und die Ägypter jagten ihnen nach, alle Rosse und Wagen des Pharao und seine Reiter und das ganze Heer des Pharao.Und die Ägypter holten sie ein, als sie am Meer bei Pi-Hahirot vor Baal-Zefon lagerten. Und als der Pharao nahe herankam, hoben die Israeliten ihre Augen auf, und siehe, die Ägypter zogen hinter ihnen her.

Und sie fürchteten sich sehr und schrien zu dem Herrn und sprachen zu Mose: Waren nicht Gräber in Ägypten, dass du uns wegführen musstest, damit wir in der Wüste sterben? Warum hast du uns das angetan, dass du uns aus Ägypten geführt hast? Haben wir’s dir nicht schon in Ägypten gesagt: Lass uns in Ruhe, wir wollen den Ägyptern dienen? Es wäre besser für uns, den Ägyptern zu dienen, als in der Wüste zu sterben.

Da sprach Mose zum Volk: Fürchtet euch nicht, steht fest und seht zu, was für ein Heil der Herr heute an euch tun wird. Denn wie ihr die Ägypter heute seht, werdet ihr sie niemals wiedersehen. Der Herr wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein.


Das Pessachfest

Heute endet das jüdische Pessachfest. Gefeiert wird es seit dem 28. März. Pessach ist das wichtigste Wallfahrtsfest im jüdischen Festkalender. Während der Feiertage erinnert sich die jüdische Gemeinde an die Leidensgeschichte des Volkes Israel in Ägypten. Und sie feiert die Befreiung aus der Knechtschaft durch den Herrn.

Als ich den heutigen Predigttext nach der neuen Lese- und Predigtordnung zur Kenntnis nahm, war mir zuerst unwohl zumute. Ist es recht, dass wir Christen die Exoduserzählung in den Mittelpunkt unserer diesjährigen Osterfeier stellen? Die Erzählung vom Auszug aus Ägypten gehört zum jüdischen Pessach- und nicht zum christlichen Osterfest.

Auf der anderen Seite erinnert uns die Erzählung an die jüdischen Wurzeln unserer Religion. Alle Personen aus der Osterzählung, die wir eben hörten, Maria Magdalena und die anderen Jüngerinnen, Petrus und die anderen Jünger, gehörten der jüdischen Gemeinde an. Mit Jesus waren sie nach Jerusalem gezogen, um das Pessachfest zu feiern. Insofern ist es schon berechtigt, dass sich auch die christlichen Gemeinden an die Geschehnisse am Meer bei Pi-Hahirot erinnern. Aber muss das an Ostern sein? Was hat die Exoduserzählung mit Ostern zu tun? In ihr geht es nicht um das Jenseits, um den Sieg des Lebens über den Tod. Die Geschichte vom Auszug aus Ägypten erzählt von einer Befreiungstat im Diesseits.

Der Wille zur Veränderung

Warum also die Exoduserzählung an Ostern? Die erste Antwort könnte lauten: weil sie Ähnlichkeiten mit Ostererzählung aufweist. Die Israeliten wurden zwar angesichts des heranstürmenden ägyptischen Heeres von der Angst ergriffen und machten Mose schwere Vorwürfe. Gleichzeitig aber wollten sie ihre Lage ändern. Sie wollten raus aus ihrem versklavten Leben. Sie wollten frei sein und flüchteten mit Mose aus Ägypten.

Bei den Jüngerinnen und Jüngern verhielt es sich ähnlich. Jesus war tot und begraben. Die Jünger hatten sich versteckt. Nur einige Frauen um Maria Magdalena waren bei Jesus geblieben. Sie waren es auch, die sich am Morgen zum Grab aufmachten, um den Leichnam mit wohlriechenden Ölen zu salben. So wollten sie ihrem Herrn, ihrem Rabbi einen letzten Liebesdienst erweisen.

Eigentlich wäre es das gewesen. Für gewöhnlich kehrt man in so einer Situation in sein altes Leben zurück. Auf Maria wartete ihr Zuhause in Magdala. Petrus und sein Bruder Andreas waren in Betsaida am See Gennezaret daheim. Und auch die anderen Jüngerinnen und Jünger hätten heimkehren können. Doch das taten sie nicht. Wie für das Volk Israel war auch ihr Auszug aus dem alten Leben endgültig. Sie hatten sich nicht aus einem spontanen Gefühl heraus der Jesusbewegung angeschlossen. Sie waren wie die Israeliten in Ägypten unzufrieden. Unzufrieden mit dem Zustand ihres bisherigen Lebens. Und mit dem Zustand dieser Welt. Das wollten sie ändern. Und sie glaubten daran, dass ihnen das mit Jesus gelingen kann. Dafür waren sie wie die Israeliten beim Auszug aus Ägypten bereit, auch Entbehrungen auf sich zu nehmen.

Auferstehung auf Erden

Wir neigen dazu, die Auferstehung auf das Jenseits zu beschränken. Sicher: Wir vertrauen darauf, dass wir nicht ins Nichts hineinsterben. Dass uns nach unserem Tod die offenen Arme unseres Bruders und Herrn Jesus Christus erwarten. Dass wir mit unseren Lieben das Fest des ewigen Lebens feiern werden.

Die Auferstehung hat aber auch eine diesseitige Dimension. Und die droht in unserer Osterfreude unterzugehen. Davor hat der vor hundert Jahren geborene Schweizer Dichterpfarrer Kurt Marti unermüdlich gewarnt. Der 2017 verstorbene Theologe und Schriftsteller Kurt Marti war überzeugt davon, dass es beim Glauben nicht ums Jenseits geht.

„Wer das Leben zu einem Vorspiel des Jenseits oder das Jenseits zum fortsetzenden Nachspiel diesseitigen Lebens macht“, schreibt er in seinem Hauptwerk „Notizen und Details“, „nimmt den Schöpfer nicht ernst, der alles Leben geburtlich und sterblich, also vergänglich geschaffen hat. Das Leben hat seinen Sinn in sich selbst, ist nicht Mittel für ein Leben danach.“

Marti stellte Ostern und die Auferstehung nicht infrage. Er hält nur nichts davon, sich über das Jenseits viele Gedanken zu machen. Viel wichtiger war ihm die Auferstehung hier auf Erden. Das brachte er mit seinem „anderen Osterlied“ so zum Ausdruck: „Doch ist der Befreier vom Tode auferstanden, ist schon auferstanden und ruft uns nun alle zur Auferstehung auf Erden, zum Aufstand gegen die Herren, die mit dem Tod uns regieren, die mit dem Tod uns regieren.“

Auferstehung auf Erden, Befreiung hier und jetzt. Darum geht es auch in der Exoduserzählung. Deshalb bin ich überzeugt, dass Kurt Marti es befürwortet hätte, die Geschichte vom Auszug aus Ägypten in den Mittelpunkt der Osterfeier zu stellen. Denn sie erzählt vom Aufstand gegen die Herren, die mit dem Tod uns regieren.

Frei von Angst

Kurt Marti ruft uns zur Auferstehung hier und jetzt auf. Er will die „auferstehung derer die leben“. Wir sollen auferstehen zu einem guten und erfüllten Leben. Zu einem Leben, dem das Wohl der Mitwelt am Herzen liegt. Zu einem Leben, das frei von Angst ist. Denn Gott, so Marti, ist „kein Angstmacher, sondern ein Befreier“.

„Da sprach Mose zum Volk: Fürchtet euch nicht, steht fest und seht zu, was für ein Heil der Herr heute an euch tun wird.“ Fürchtet euch nicht, rief auch der Engel den Frauen im leeren Grab zu. Denn Gott ist kein Angstmacher, sondern ein Befreier. Mit seinem auferweckten Sohn befreite Gott auch Maria Magdalena, Petrus und die anderen Jüngerinnen und Jünger von ihrer Angst. Frei von Angst setzten sie ihr neues Leben in der Gemeinde Jesu Christi fort.

Die Exoduserzählung macht aus Ostern das große Fest der Befreiung von der Angst. Der Angst vor einem Leben in Knechtschaft. Der Angst vor einem leeren und verpassten Leben. Zur Angst, rufen uns heute Mose am Meer bei Pi-Hahirot und der Engel im leeren Grab zu, besteht kein Anlass. Denn Gott ist kein Angstmacher, sondern ein Befreier.

Das letzte Wort soll der anregende und herausfordernde Jubilar Kurt Marti mit einem Gedicht zur Auferstehung haben:

ihr fragt
was ist die auferstehung der toten?
ich weiß es nicht

ihr fragt
wann ist die auferstehung der toten?
ich weiß es nicht

ihr fragt
gibt’s eine auferstehung der toten?
ich weiß es nicht

ihr fragt
gibt’s keine auferstehung der toten?
ich weiß es nicht

ich weiß nur
wonach ihr nicht fragt:
die auferstehung derer die leben

ich weiß nur
wozu Er uns ruft: zur
auferstehung heute und jetzt