Lesepredigt Palmsonntag

28.03.2021
Predigt zu Hebr 11,1-2; 12,1-3
Pfr. Dr. Roland Liebenberg


Die Wolke der Zeugen


Der Glaube und die Wolke der Zeugen

Der Predigttext ist dem 11. und 12. Kapitel des Hebräerbriefes entnommen. Er lautet:

Der Glaube ist eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht. In diesem Glauben haben die Alten Gottes Zeugnis empfangen. Darum auch wir: Weil wir eine solche Wolke der Zeugen um uns haben, lasst uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns umstrickt.

Lasst uns laufen mit Geduld in den Kampf, der uns bestimmt ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, der, obwohl er hätte Freude haben können, das Kreuz erduldete und die Schande gering achtete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes. Gedenkt an den, der so viel Widerspruch gegen sich von den Sündern erduldet hat, dass ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken lasst.


Ein Brief für Sofie

An einem ganz normalen Schultag im Mai erhielt Sofie Amundsen einen Brief. Sie entdeckte ihn auf dem Nachhauseweg von der Schule. Ehe sie das Gartentor öffnete, schaute sie in den großen grünen Briefkasten. Darin lag ein kleiner Brief. Sofies Name und Adresse standen auf dem Briefumschlag. Neugierig öffnete Sofie den Brief. Er enthielt einen Zettel. Auf dem Zettel stand: Wer bist du? Mehr nicht. Sofie ging ins Haus. In der Küche nahm sie auf einem Küchenhocker Platz und starrte den Zettel an. Wer bist du? Sie wurde unsicher. Natürlich war sie Sofie Amundsen. Was aber wäre, wenn sie einen anderen Namen hätte? Wäre sie dann noch immer dieselbe Person?

Im Badezimmer starrte Sofie ihr Spiegelbild an. Mit dem Zeigefinger drückte sie die Nase ihres Spiegelbildes und sagte: „Du bist ich.“ Als sie keine Antwort bekam, stellte sie den Satz auf den Kopf und sagte: „Ich bin du.“ Sie dachte über ihr Aussehen nach. Das war ihr einfach in die Wiege gelegt worden. Ihre Freundinnen konnte sie sich aussuchen. Sich selbst aber hatte sie nicht gewählt. Sie hatte sich nicht einmal dazu entschieden, ein Mensch zu sein. Was ist ein Mensch? Sofie sah wieder das Mädchen im Spiegel an. „Ich glaube, ich mache jetzt lieber meine Bio-Aufgaben.“

Der Wert der Vergangenheit

So beginnt der Roman „Sofies Welt“ des norwegischen Schriftstellers Jostein Gaarder. In den 90er Jahren war sein Buch ein weltweiter Besteller. Um die Frage „Wer bist du?“ und andere wichtige Fragen beantworten zu können, begibt sich Sofie auf eine Reise durch die Geschichte der Philosophie. Begleitet wird sie von einem geheimnisvollen Lehrer. Er bringt ihr die wichtigsten Frauen und Männer aus der Philosophiegeschichte nahe. Ihre in vergangenen Epochen gestellten Fragen und Antworten bringen Sofie weiter, auch wenn sie keine endgültigen Wahrheiten erhält.

Ohne die Kenntnis der Vergangenheit finden wir auf die Fragen der Gegenwart keine tragfähigen Antworten. Das teilt uns Jostein Gaarder in seinem Bestseller „Sofies Welt“ mit.

Die Wolke der Zeugen

Eine ähnliche Bedeutung hat die Vergangenheit auch im Hebräerbrief. Die „Wolke der Zeugen“ aus der Vergangenheit führt uns vor Augen, was es mit dem Glauben auf sich hat. Die Vergegenwärtigung des Glaubensweges der Alten hilft uns, einen eigenständigen, aber auch mit der Tradition verbundenen Weg als Glaubende zu finden.

„Blickt auf die Alten, auf ihren Glauben, der von Zuversicht und Hoffnung durchdrungen war“, fordert uns der Hebräerbrief auf. „Sie zweifelten nicht an dem, was Gott versprochen hatte, auch wenn sie es nicht mit den eigenen Augen sahen.“ Die Wolke der Zeugen, die im
Hebräerbrief genannt wird, reicht von Abraham und Sara bis zu den Propheten. Mit einer solchen Wolke von Zeugen hält der Verfasser des Hebräerbriefes es für möglich, alles abzulegen, was uns beschwert. Auch die Sünde, die uns um uns selbst kreisen lässt.

Im Strom der Tradition

Das klingt schon sehr optimistisch. Und ich könnte jetzt mit einer Kritik antworten. Ich würde einsetzen mit der Feststellung, dass die Alten durchaus den Zweifel kannten. Doch will ich das heute sein lassen. Denn auch ich bin von der Bedeutung der Vergangenheit und der Wolke der Zeugen für unseren Glauben überzeugt.

Bestärkt werde ich hierbei von Jesus selbst. Heute, am Palmsonntag, erinnern wir uns an seinen Einzug in Jerusalem. In den Evangelien wird berichtet, dass er auf einem jungen Esel in die Stadt ritt. Für gewöhnlich wird das als ein Zeichen der Demut verstanden. Nicht auf einem Schlachtross wie die Herrscher dieser Welt zog Jesus in Jerusalem ein, sondern auf dem Reittier der einfachen und armen Menschen.

Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Jesus kannte die Tradition. Einst hatte der Prophet Sacharja prophezeit: „Jauchze Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf dem Fohlen einer Eselin.“ Indem Jesus auf einem jungen Esel in die Stadt einzog, gab er zu verstehen: Ich bin dieser König. Mit seinem Einzug in Jerusalem reihte sich Jesus ein in den langen Strom der Tradition, der von ihm und Johannes dem Täufer über die Propheten bis Abraham, ja bis zu Adam und Eva zurückreicht.

Zwei Zeugen des Glaubens


In diesem Strom der Tradition stehen auch wir. In den beinahe zweitausend Jahren seit dem Einzug in Jerusalem sind viele weitere Zeugen hinzugekommen. Männer und Frauen, die zu Vorbildern des Glaubens wurden. Deren Glaubenszeugnisse immer wieder neu gelesen, gesprochen oder studiert werden.

Gott macht diese Zeugnisse durch den Heiligen Geist zu Kraftquellen für den Glauben heute. Aus dem Hebräerbrief erfahren wir, dass sie uns helfen alles abzulegen, was uns beschwert. Sie motivieren uns, Gott zu suchen und mit Geduld neu den Kampf um den Glauben aufzunehmen.

Martin Luther King

In den vergangenen Jahren ragten für mich aus der Wolke der Zeugen zwei Zeugen heraus. Der eine Zeuge ist für mich der am 4. April 1968 in Memphis Tennessee ermordete Prediger, Theologe und Friedensnobelpreisträger Martin Luther King.

King ist mein Prediger der Hoffnung. Wenn ich verzweifelt und deprimiert bin, den Glauben und die Hoffnung zu verlieren drohe, wende ich mich oft an ihn. King war selbst oft verzweifelt und bitter enttäuscht über den Hass und die Gewalt, die er oder andere Männer und Frauen der Bürgerrechtsbewegung erleiden mussten.

Doch wollte er darauf nicht mit Bitterkeit antworten. Denn das, so King, „würde nur unsere Persönlichkeit vergiften und zerstören“. Nach King können wir „nichts Fruchtbareres tun“ als „an der Hoffnung fest[zu]halten. […] Gott“, so King, „ist auch in den engsten und trübsten Zellen des Lebens bei uns. Und selbst wenn wir in ihnen sterben, ohne daß empfangen zu haben, was uns das irdische Leben verhieß, so wird er uns über die geheimnisvolle Straße des Todes in jene herrliche Stadt führen, die er uns bereitet hat.“

Dietrich Bonhoeffer

Der zweite Zeuge, der für mich aus der Wolke der Zeugen in den vergangenen Jahren immer wieder herausragte, ist der am 9. April 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg von den Nazis hingerichtete Theologe Dietrich Bonhoeffer. Bonhoeffer ist mein Prediger für die Fragen und Probleme unserer Zeit.

Der Titel seines letzten Buches lautet „Widerstand und Ergebung“. Dieses Buch hat Bonhoeffers Freund und Biograph Eberhard Bethge aus Briefen und Aufzeichnungen
Bonhoeffers zusammengestellt. Bonhoeffer steckte sie Bethge bei seinen Besuchen im Gefängnis zu.
In „Widerstand und Ergebung“ findet sich ein Glaubensbekenntnis. Bonhoeffer hat es 1943, zehn Jahre nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten verfasst. Bonhoeffers Glaubensbekenntnis spricht auch in unsere düstere Zeit hinein. Heute lese ich es Ihnen als Ergänzung zu unserem Predigttext vor. Thema des Glaubensbekenntnisses ist das Wirken Gottes in der Geschichte.

Viele von uns fragen sich in diesen Tagen, in welchem Zusammenhang der allmächtige und barmherzige Gott und die Corona-Pandemie stehen. Bonhoeffer formulierte 1943 eine Antwort darauf. Nämlich folgende:

„Ich glaube,
daß Gott aus allem,
auch aus dem Bösesten,
Gutes entstehen lassen kann und will.
Dafür braucht er Menschen,
die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.

Ich glaube,
daß Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will,
wie wir brauchen.
Aber er gibt sie nicht im Voraus,
damit wir uns nicht auf uns selbst,
sondern allein auf ihn verlassen.


In solchem Glauben
müßte alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.


Ich glaube,
daß auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind,
und daß es Gott nicht schwerer ist,
mit ihnen fertig zu werden,
als mit unseren vermeintlichen Guttaten.


Ich glaube,
dass Gott kein zeitloses Fatum ist,
sondern daß er auf aufrichtige Gebete
und verantwortliche Taten wartet
und antwortet.“