Lesepredigt Pfingsten

Sonntag, 23.05.2021
Predigt zu Gen 11,1-9
Pfr. Dr. Roland Liebenberg


Geist des Durcheinanders


Die Erzählung vom Turmbau zu Babel

Der Predigttext steht im Ersten Buch Mose. Im 11. Kapitel wird erzählt:

Alle Bewohner der Erde aber hatten eine Sprache und ein und dieselben Worte. Als sie nun von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Land Schinar und ließen sich dort nieder. Und sie sagten zueinander: Auf wir wollen Ziegel formen, und sie hart brennen. So diente ihnen der Ziegel als Baustein. Und der Asphalt diente ihnen als Mörtel. Und sie sagten: Auf, wir wollen eine Stadt bauen und einen Turm, dessen Spitze bis an den Himmel reicht, und uns so einen Namen machen, damit wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen.
Da stieg der Herr herab, um die Stadt zu besehen und den Turm, die die Menschen bauten. Und der Herr sprach: Sieh, alle sind ein Volk und haben eine Sprache. Und dies ist erst der Anfang ihres Tuns. Nun wird ihnen nichts mehr unmöglich sein, was immer sie sich zu tun vornehmen. Auf, lasst uns hinabsteigen und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner mehr die Sprache des andern versteht.
Und der Herr zerstreute sie von dort über die ganze Erde. Und sie ließen davon ab, die Stadt zu bauen. Darum nannte man sie Babel, denn dort hat der Herr die Sprache aller Bewohner der Erde verwirrt. Und von dort hat der Herr sie über die ganz Erde zerstreut.


Die scheinbar klare Botschaft

Was will uns die Turmbau-Geschichte mitteilen? In der Regel nimmt man an, dass sie uns erklären will, wie aus einem guten Zustand ein schlechter wurde. Einst verstanden sich die Menschen. Sie verständigten sich in derselben Sprache. Doch dann verstanden sie sich nicht mehr. Gott hatte sie bestraft, weil sie wie Gott sein wollten. Das zeigt ihr Turmbauprojekt. Der Herr verwirrte ihre Sprachen und zerstreute sie über die ganze Erde.

In einem Familiengottesdienst würde ich mit Kindern einen Turm aus Kartons aufbauen. So könnte ich zum einen die Geschichte anschaulich nacherzählen. Zum anderen wäre es mir möglich aufzuzeigen, dass nach Gottes Eingreifen aus dem Turm eine Mauer geworden ist. Eine Mauer der Sprachverwirrung. Eine Mauer, die Menschen voneinander trennt. So wäre klar: Die Sprachverwirrung war eine Bestrafung. Und dann käme die Pfingstbotschaft: Erst durch den Heiligen Geist können die Folgen dieser Strafe geheilt werden. Der Heilige Geist bringt die voneinander getrennten Menschen zusammen. Mit seiner Hilfe verstehen sie sich wieder.

Eine andere Lesart

Doch ist die Verwirrung, die Vielfalt der Sprachen wirklich eine Strafe? Wer oder was wird in der Geschichte vom Turmbau in Babel eigentlich kritisiert? Um eine textgemäße Antwort drauf zu erhalten, muss man sich das 10 Kapitel und die Geschichte vom Turmbau näher ansehen. Im 10 Kapitel wird von den Nachkommen Noahs erzählt. Zu jedem Zweig der Nachkommen wird festgehalten, dass sie in ihren Ländern lebten, „je nach der Sprache, in ihren Sippen, in ihren Völkerschaften“. Nimmt man diese Vorgeschichte zur Kenntnis, fragt man sich, wieso im folgenden Kapitel „alle Bewohner der Erde“ nur noch „eine Sprache“ hatten.

Wie konnte aus den vielen Sprachen eine Sprache werden? Schon im 19. Jahrhundert wiesen jüdische Schriftgelehrte darauf hin, dass wir es hier mit einem totalitären System zu tun haben. Babel, wie es im 1. Buch Mose beschrieben wird, ist mitnichten ein Paradies menschlicher Harmonie und Eintracht. Babel steht für den ersten Totalitarismus in der Welt. Die Erbauer der Stadt trachteten nicht einfach nur nach Einheit. Sie zwangen die Menschen zur Uniformität.

Der erste Totalitarismus

Die Menschen mussten sich der babylonischen Herrschaftsideologie anpassen. Ähnliches erleiden, um ein Beispiel zu nennen, derzeit die Uiguren in China. Wie im biblischen Babel darf es dort nur noch eine Kultur und Sprache geben. Und zwar die der Herrschenden.

Im 1. Buch Mose werden Städte als Orte der Entfremdung von der Natur (4,17), von Gott (19,4f.) und von den Mitmenschen (4,16f.) beschrieben. Mit Babel verhält es sich genauso. Gott ist fern. Und der einzelne Mensch zählt nichts. Deutlich wird das schon an der eintönigen Wortwahl im hebräischen Text. In der Lutherübersetzung kommt die Monotonie, ja Tristesse der Erzählung leider nicht zum Vorschein. Deshalb habe ich die Übersetzung in der Zürcher Bibel verwendet. Sie kommt dem Original näher.

„Auf, wir wollen Ziegel formen und sie hart brennen“, sagen die Leute zuerst. Dann wird der Bauauftrag erteilt: „Auf, wir wollen eine Stadt bauen und einen Turm, dessen Spitze bis an den Himmel reicht, und uns so einen Namen machen, damit wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen.“ Die Menschen sollen für ein Ganzes arbeiten. Mit ihrer Arbeit werden sie ein unbedeutender Teil eines bedeutenden Ganzen. Das Individuum tritt zurück hinter das Kollektiv. Einen Namen macht sich mit dem größenwahnsinnigen Bauprojekt nicht der einzelne Mensch, sondern die Stadt des Kollektivs.

Namen haben in den biblischen Erzählungen einen hohen Stellenwert. Unserer Erzählung geht eine Namensliste voraus. Sorgfältig werden die Namen von Noahs Nachkommen aufgelistet. Für Babel jedoch gibt es nur einen Namen, den der Stadt. Die Namen der Menschen, die in der Stadt leben, spielen keine Rolle.

Gottes Durcheinander

Und genau das ändert Gott mit seinem Eingreifen. Die sogenannte Sprachverwirrung war keine Strafe. Sie war eine Erlösung für die Menschen. Gott zerstörte ein totalitäres System und befreite den Menschen in die Vielfalt der Sprachen, in die Vielfalt der Kulturen, in die Vielfalt der Lebensformen, ja, in die Vielfalt der Religionen und Konfessionen.

Das mag uns auf dem ersten Blick als ein großes Durcheinander vorkommen. Genau diese Bedeutung hat auch der Name Babel: Verwirrung, Durcheinander. Doch ohne dieses Durcheinander gibt es keine Unterschiede, keine Mehrdeutigkeit, keine Vielfalt und Individualität. Ohne dieses Durcheinander gibt es keine Freiheit. Gott mutet uns das Durcheinander zu, damit wir frei sein können. Damit wir den Mut haben, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen. Gottes Durcheinander kommt den Menschen in ihrer unbegrenzten Vielfalt zugute.

Auf dem Weg zurück nach Babel

Viele unter uns meinen, dass wir heute in einer bunten und vielfältigen Welt leben. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Wir befinden uns auf dem Weg zurück nach Babel. Und zwar in allen Bereichen des Lebens.

Einige Beispiele aus der Natur: Seit 1800 ist der Vogelbestand um 80 Prozent zurückgegangen. In den letzten 25 Jahren hat die Biomasse der Insekten um 80 Prozent abgenommen. In der Natur geht die Vielfalt in nie dagewesenem Umfang zurück.

Bei den Nutzpflanzen sieht es nicht besser aus. Von den einst 20.000 Apfelsorten bekommen wir heute höchsten sechs in den Läden angeboten. Einst gab es 30.000 Maissorten auf der Welt. Angebaut werden heute nur noch ein paar Dutzend.

Die Vielfalt ist auch unter uns auf dem Rückmarsch. Die Gesellschaft für bedrohte Sprachen warnt davor, dass ein Drittel der gesprochenen Sprachen in den nächsten Jahrzehnten aussterben werden. Bedroht sind insbesondere die Dialekte.
Dass die Verhundertfachung der Fernsehprogramme seit 1978 keine Steigerung der inhaltlichen Vielfalt bedeutet, erleben wir alle, wenn wir unseren Fernseher einschalten. Die Vielzahl der Programme hat im Gegenteil zur wundersamen und monotonen Vermehrung von Krimis und Talkshows geführt. Sendungen mit kulturellem Inhalt werden demgegenüber in wenige Spartenkanäle oder in die Zeit um Mitternacht verdrängt.

Viele meinen, wir lebten heute in einem multikulturellen Land. Im Gefolge des Zuzugs von Menschen aus anderen Ländern erleben wir zwar eine zunehmende Vielfalt von Sprache und Kultur. Allerdings wird das von der deutschsprachigen Mehrheit argwöhnisch beobachtet. Direkt oder indirekt werden eingewanderte Menschen aus anderen Ländern und Kulturen dazu gedrängt, sich der Sprache und Kultur der Deutschen anzupassen. Mit Multikulturalität hat das wenig zu tun.

Die herrschte bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein auf den Handelsrouten von Westafrika über Ägypten, den Vorderen Orient, Zentral- und Südasien bis hin nach China und Indonesien. In den Städten an diesen Handelsrouten gab es Gebetshäuser vieler verschiedener Religionen. Die Menschen waren auf unterschiedlichste Weise gekleidet. Auf den Straßen hörte man zahlreiche Sprachen, und „all dies erschien allen normal und selbstverständlich“ (Thomas Bauer). Das ist Multikulturalität. Davon sind wir nicht nur weit entfernt. Ich vermute, dass die Mehrheit unter uns diese wahre Vielfalt der Kultur ablehnt und, wenn es sein muss, sie auch mit Gewalt bekämpft. Wir sind auf dem Weg zurück nach Babel.

Gottes Geist des Durcheinanders

Davor bewahren kann uns Christinnen und Christen nur Gott mit seinem Geist des Durcheinanders. Auch die Pfingstgeschichte erzählt von der Vielfalt der Menschen und Kulturen.

Die vom Geist ergriffenen Jünger sprachen keine Einheitssprache. In der Erzählung werden alle bekannten Gegenden von damals aufgezählt. Petrus, Johannes und die anderen Jünger redeten in den damals bekannten Sprachen. Ich entnehme der Pfingstgeschichte mit Blick auf die Erzählung vom Turmbau zu Babel: Der Heilige Geist schafft ein Durcheinander von Sprachen.

Zugleich aber wirkt er wie ein Dolmetscher. Er verändert das Hören und Verstehen. Er nimmt uns die Angst vor den fremden Menschen und den fremden Sprachen. Er erweckt in uns das Interesse und die Neugier auf Menschen aus anderen Ländern und Kulturen. Er hilft uns auf sie zuzugehen. Er spornt uns dazu an, unseren Horizont zu erweitern, dazuzulernen, und die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Konfessionen als einen wertvollen Schatz zu begreifen.

Gottes Geist des Durcheinanders macht mich frei, mich als einen individuellen Bestandteil seiner unendlich vielfältigen Schöpfung zu begreifen. Und er hilft mir, den totalitären Versuchungen unserer Zeit zu widerstehen.