Lesepredigt 2.So.n.Epiphanias

16.01.2022
Predigt zu 1 Kor 2,1–5
Pfr. Dr. Roland Liebenberg


Frei für Gottes Herrlichkeit


Gespräch im Wartesaal

Es ist kalt und zugig im Wartesaal der Eisenbahnstation. Drei Reisende warten auf den nächsten Zug. Einer von ihnen liest gerade eine Zeitung, als er plötzlich laut sagt: „Das hat er ausgezeichnet gemacht! Ein famoses Stück von dem Alten!“ Der zweite Reisende neben ihm sieht ihn fragend an. „Durchgebrannt ist er, aus seinem Haus, mit 83 Jahren, ohne Gepäck. Nur sein Arzt soll ihn begleiten.“

Der dritte Reisende, ein junger Student, nickt den beiden Männern zu. „Ja, ich habe auch davon gehört. Er hat alles hinter sich gelassen. Gut so. Es war eine Schande, wie er lebte. Ein einziger Widerspruch zu dem, was er geschrieben hat. Spielte den Grafen. Jetzt kann er endlich frei zu den Menschen reden. Gott gebe, dass er die Welt aufrüttelt und erzählt, wie es um die Menschen in unserem Land steht.“

„Vielleicht ist alles gar nicht wahr“, gibt der zweite Reisende zu bedenken. „Vielleicht haben sie das geschrieben, um die Menschen irrezumachen. Und in Wahrheit haben sie ihn weggeschafft.“ „Wer sollte denn ein Interesse haben, ihn fortzuschaffen“, fragt der Mann mit der Zeitung. „Na die Polizei, das Militär, die Kirche“, antwortet sein Banknachbar. „Sie alle fürchten sich vor ihm. Es sind ja schon einige so verschwunden – ins Ausland, hat man dann gesagt.“ „Ja, das könnte schon sein.“ „Nein, das wagen sie nicht. Dieser eine Mann ist mit seinem bloßen Wort stärker als sie alle. Nein, das wagen sie nicht.“ Der Student hatte einen roten Kopf. Er war sichtlich erregt.

Flucht aus einem falschen Leben

Verlassen wir den Wartesaal im russischen Astapowo für einen Moment. Ein alter Mann, gebrechlich und dem Tod nahe, bricht mit seinem bisherigen Leben und verschwindet. Das versetzt die Menschen in helle Aufregung. Und zwar in ganz Europa.

Geschehen ist das im Jahr 1910. Der alte Mann floh aus einem falschen Leben. Aus einem berühmten Leben. Aus einem Leben, das ihm Ansehen und Aufmerksamkeit, Geld und Einfluss einbrachte. Dieses Leben hatte der Alte satt. Er war überzeugt davon, dass es ihn von Gott entfernt hatte.

Das offene Wort des Apostels

Woher er das wusste? Vielleicht entnahm er das auch unserem heutigen Predigttext. Er steht im ersten Brief des Paulus an die Gemeinde in Korinth. Dort schreibt der Apostel im ersten Abschnitt des zweiten Kapitels:

Als ich, liebe Geschwister, zu euch kam, kam ich nicht mit hohen Worten oder hoher Weisheit, euch das Geheimnis Gottes zu predigen. Denn ich hielt es für richtig unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten.

Und ich war bei euch in Schwachheit und in Furcht und mit großem Zittern. Und mein Wort und meine Predigt geschahen nicht mit überredenden Worten der Weisheit, sondern im Erweis des Geistes und der Kraft, auf dass euer Glaube nicht stehe auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft.


Paulus bekannte sich zu seinen Schwächen. Das Predigen mit „hohen Worten oder hoher Weisheit“ war ihm nicht gegeben. Seine Redekunst ließ mehr als zu wünschen übrig. Und sein äußeres Auftreten muss auch ziemlich enttäuschend gewesen sein.

Ich war bei euch „in Schwachheit und in Furcht und mit großem Zittern“ gestand er in seinem Brief ein. Mit diesen Schwächen hätte es Paulus auch bei uns schwer gehabt. Kommt es heute neben der Bekanntheit doch vor allem auf die Ausstrahlung an. Wer die nicht hat, braucht sich keine Hoffnung auf große Beliebtheit oder viele Anhänger zu machen.

In der Antike war das nicht anders als in unseren Tagen. Wer etwas gelten und Ansehen erheischen wollte, musste bekannt sein und außergewöhnliche Talente besitzen. Das galt auch und besonders auf dem hart umkämpften Markt der Religion. Heiler oder Priester, Propheten oder Apostel mussten etwas hergeben. Schon rein äußerlich musste man erkennen, dass sie eine besondere Aura umgab. Dass sie weise Männer waren. Dass sie eine besondere Befähigung zur Rede hatten. Nichts von alledem hatte der schwächliche Paulus zu bieten.

Die Herrlichkeit des Kreuzes

Was die Menschen aber noch mehr empörte, war das von ihm verkündigte Gottesbild. Paulus redete und schrieb von einem Gott, der ihre Vorstellung von göttlicher Herrlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes durchkreuzte. „Ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten“, schrieb er den Korinthern. Alles, was Paulus zu bieten hatte, war das Wort vom gekreuzigten Messias.

Für ihn war dieses Wort jedoch stärker und herrlicher als alle Herrlichkeiten, die uns Menschen für gewöhnlich in Bann ziehen. Denn mit dem gekreuzigten Jesus nahm Paulus auch die „Kraft Gottes“ wahr. Und mit dieser Kraft meinte er die allmächtige Kraft der Auferstehung. Diese Kraft erfahren wir allerdings erst nach unserem Tod. Hier auf Erden ist für uns die Herrlichkeit Gottes nur als Herrlichkeit des Kreuzes erfahrbar. „Gott kann … nur in Kreuz und Leiden gefunden werden“, fasste Martin Luther später das paulinische Wort vom Kreuz in seiner Heidelberger Disputation zusammen.

Für alle, die auf Ruhm und Ehre, auf Prunk und Pracht, auf Macht und Erfolg setzen, ist das ein törichter, ja aberwitziger Gedanke: Die Herrlichkeit des allmächtigen Gottes begegnet uns in einem zu Tode gefolterten Menschen. Und Paulus zog daraus den Schluss: Gottes Herrlichkeit kann nur bei den aus unserer Sicht Schwachen und Erfolglosen wahrgenommen werden. „Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (2 Kor 12,9).

Frei für ein herrliches Leben

Diese Aussage darf nicht missverstanden werden. Paulus wollte mit ihr nicht das Leid der unzähligen Opfer menschlicher Bosheit schönreden. Wenn Gottes Herrlichkeit und Kraft in den Opfern mächtig ist, dann kann das nur heißen: Gott verbündet sich mit ihnen. Der Allmächtige steht auf ihrer Seite und fordert für sie Gerechtigkeit ein. Und auch wenn es vielen nicht passt, hat das die Kirche Jesu Christi zu verkündigen. Ansonsten macht sie nicht mehr die Herrlichkeit Gottes, sondern die Selbstherrlichkeit des Menschen zu ihrer Sache.

Mit seiner ganz anderen Vorstellung von der Herrlichkeit Gottes ruft uns Paulus aber nicht nur zur Solidarität mit den Schwachen und Opfern auf. Paulus schürft tiefer: Schwach zu sein, gehört für ihn zu unserem Leben. Er, der glanzlose Redner, der geschlagene und getretene Apostel, hat das nur allzu oft am eigenen Leib erfahren. Niemand von uns ist ohne Schwächen. Vor Gott dürfen wir schwach sein.

Wenn Gottes Kraft und Herrlichkeit im Schwachen mächtig ist, dann brauche ich meine Schwachheit nicht kaschieren. Dann ist es nicht nötig, dass ich mein Leid verschweige oder mich schäme, weil ich unfähig bin oder versagt habe. Ich bin schwach und werde dennoch geliebt.

In unserer Gesellschaft sind Leistung, Wohlstand und Erfolg zu einer Ersatzreligion geworden. Für jene, die ihr anhängen, mag die Rede von einem Gott, dessen Herrlichkeit und Kraft im Schwachen mächtig ist, töricht und unpopulär sein. Für jene jedoch, die diesem Wort vertrauen, es annehmen und versuchen, ihr Denken, Reden und Handeln danach auszurichten, wird das Leben dadurch freier und lebenswerter.

Statt den Dingen nachzuhecheln, die gerade angesagt sind, kann ich mich auch Mal in Ruhe zurücklehnen. Ich muss der Welt nicht mehr beweisen, welch herrliche Dinge ich mir leisten oder selbst produzieren kann. Und ich kann aufrichtig zu mir selbst zu sein, weil ich davon befreit bin, mich mit „hohen Worten“ und „hoher Weisheit“ selbst rühmen zu müssen. Weil ich mich von den Herrlichkeiten dieser Welt nicht mehr blenden lasse, kann ich mich auch ändern, wenn es nötig ist. Ich kann meine Schwächen angehen, ohne das Gefühl zu haben, dass der Zug längst abgefahren ist. Ich kann an meinen Beziehungen zu anderen Menschen arbeiten, weil ich weiß, dass es da nie optimal läuft. Ich kann aber auch ausruhen und meine Grenzen anerkennen. Sie und ich, wir sind frei, frei für ein herrliches Leben. Frei für ein Leben, das durchdrungen ist von der Herrlichkeit Gottes.

Flucht in die Herrlichkeit Gottes

Diese Freiheit entdeckte für sich auch der weltberühmte russische Schriftsteller Leo Nikolajewitsch Tolstoi. Tolstoi floh als 83-Jähriger aus einem falschen Leben, weil er sich nach der Herrlichkeit Gottes sehnte. Kehren wir noch einmal zurück zum Bahnhof in Astapowo.

Der Zug ist inzwischen eingetroffen. Die drei Reisenden haben den Wartesaal verlassen und sind eingestiegen. Ausgestiegen sind Tolstoi, seine Tochter Sascha und sein Freund und Hausarzt Duschan. Tolstoi hat Fieber. Duschan und Sascha stützen ihn. Mit dem aufgeregten Bahnhofvorsteher gehen sie in den Wartesaal. Tolstoi setzt sich mit seiner Tochter hin.

Duschan spricht leise zum Bahnhofvorsteher: „Wir müssen ihn sofort zu Bett bringen. Ich glaube, es steht nicht gut mit ihm.“ „In ganz Astapowo gibt es keinen Gasthof“, erwidert der Vorsteher. „Ich könnte ihm mein Zimmer hier nebenan anbieten. Aber, es ist so gänzlich ärmlich, so einfach … ein Dienstraum, ebenerdig, eng.“

Sascha und Duschan bringen Tolstoi zum Zimmer. Der Vorsteher entschuldigt sich, dass er nur ein ganz einfaches Zimmer mit einem Eisenbett anbieten kann. Tolstoi ist zufrieden. „Gut ist das hier, sehr gut. Klein, eng, nieder, arm … Ich danke dir, fremder Mensch, dass du mir Herberge gibst in deinem Haus … Aber schließt mir die Türe. Lasst mir niemand herein. Ich will keinen Menschen mehr … nur allein sein mit ihm, tiefer, besser als jemals im Leben.“*


* Zur von mir der Predigt angepassten Erzählung vgl. Stefan Zweig, Sternstunden der Menschheit. Zwölf historische Miniaturen, Frankfurt a. M. 1962, S. 185–219.