Lesepredigt Epiphanias

Epiphanias 2022
Dr. Roland Liebenberg
Die Erkenntnis der Magier


Das Schauspiel der drei Könige

Mit prächtigen Gewändern knien sie vor der Krippe. Ihre Kronen haben sie abgelegt. Demütig und ergriffen bieten sie dem Kind ihre kostbaren Gaben an. Maria, in blaue Gewänder gehüllt, empfängt die Könige wie eine Fürstin. Das Kind sitzt auf ihrem Schoß wie auf einem Thron.

Ich denke, Sie haben diese Szene sicher schon einmal gesehen. Viele großartige Künstler haben sie in prächtigen Tafelbildern festgehalten. Die „Anbetung der Könige“ war im Mittelalter und in der frühen Neuzeit eines der beliebtesten Motive in der abendländischen Malerei. Die Bilder sind eine Wiedergabe der Mysterienspiele zum Dreikönigsfest.

Wohl seit dem 11. Jahrhundert wurden sie an diesem Feiertag aufgeführt. In dem Schauspiel traten die bei Matthäus als „Magier“ bezeichneten Weisen aus dem Morgenland als die Heiligen Drei Könige auf. Bereits seit dem 6. Jahrhundert hießen sie Melchior, Balthasar und Caspar. Schon im Mittelalter verkörperten sie die drei damals bekannten Kontinente Afrika, Asien und Europa. Im Laufe der Zeit spielten zudem ein Jüngling, ein erwachsener Mann und ein Greis die Rollen der drei Könige. Damit gaben die Regisseure der Mysterienspiele zu verstehen: Mit Melchior, Balthasar und Caspar betet die ganze Welt, junge, erwachsene und alte Menschen das Kind in Bethlehem an.

Protestantische Arroganz

Für uns Protestanten sind solche Traditionen zwar interessant. Doch nehmen wir, wenn auch nicht mit Verachtung, so doch mit innerer Distanz derartige Brauchtümer aus der Vergangenheit zur Kenntnis. Denn wir sind ja aufgeklärt. Wir wissen Bescheid: Das ist alles eine menschliche Erfindung. Das hat nichts mit dem zu tun, was uns in der Bibel über die Magier aus dem Morgenland berichtet wird. In unserer Arroganz nehmen wir gar nicht mehr wahr, was uns die reiche Tradition dieses Feiertages eigentlich mitteilen will. Und dass sie durchaus biblische Bezüge vorzuweisen hat.

Mit ihrem Schauspiel erinnerten die mittelalterlichen Gemeinden an eine Prophezeiung aus dem Jesajabuch. Dort wird zu Beginn des 60. Kapitels verkündet: „Noch liegt Finsternis über der Erde. Dunkelheit bedeckt die Völker. Doch über dir erstrahlt der Herr. Sein herrlicher Glanz scheint auf dich. Völker wandern zu dem Licht, das über dir aufgegangen ist. Könige machen sich auf zu dem Glanz, in dem du strahlst.“

Die Heiligen Drei Könige machen sich auf zu dem Glanz, der von dem Kind in Bethlehem ausgeht. Was ist das für ein Glanz? Was sagt er aus über unseren Glauben an die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus?

Mithras
Um hierauf eine Antwort geben zu können, müssen wir uns in das Ursprungsland der Magier aus dem Morgenland begeben. In das iranische Hochland, in das Land von Euphrat und Tigris. In diesem Land herrschten zur Zeit Jesu die Parther. Bis ins zweite Jahrhundert hinein leistete dieses iranische Volk den Römern erfolgreich Widerstand. Die Hauptstadt des mächtigen Partherreiches war Ktesiphon. Sie lag südöstlich von Bagdad am Tigris.

Halt und Orientierung gab den Menschen dieses Reiches die Licht-Finsternis-Religion des Zoroaster, der auch Zarathustra genannt wird. Der Bringer des Lichts, die Hauptfigur dieser
Religion, heißt Mithras. Er wurde verehrt als Vermittler zwischen Gott und den Menschen. Als Kämpfer für das Recht gegen das Böse. Als Künder der Wahrheit gegen die Unwahrheit. Die Mithrasreligion war geprägt durch eine scharfe Trennung zwischen dem Reich der Finsternis, des Bösen, des Unreinen und dem Reich des Lichts, der Reinheit, des Guten und der Gerechtigkeit.

In den ersten beiden Jahrhunderten wurde die Mithrasreligion auch im Römischen Reich immer populärer. Im 3. Jahrhundert nach Christus wurde sie sogar zur römischen Staatsreligion erhoben. Populär machte diese Religion die einfache und klare Weltordnung, für die sie stand. Oben war das Licht, unten die Finsternis. Der Mensch hatte eine Entscheidung zu treffen zwischen gut und böse, zwischen Recht und Unrecht.

Es gab nur zweierlei Menschen: Reine und Unreine. Wer zu den Reinen gehörte, gehörte für immer den Reinen an. Wer zu den Unreinen gezählt wurde, blieb unrein für alle Zeiten. Beliebt war Mithras, der Kämpfer des Lichts gegen die Finsternis, vor allem im römischen Heer. Die Legionäre konnten sich als Kämpfer des Lichts, als Soldaten des Mithras verstehen. Auf einem weißen Pferd ritt Mithras in die Schlacht gegen Satan. Zu seinem Nachfolger sollte im Mittelalter der heilige Georg werden, der ebenfalls auf einem weißen Schimmelpferd gegen das Böse, den Drachen kämpft.

Der Mithraskult hatte seinen Höhepunkt in der Tötung eines Stiers. Der Tod des Stiers symbolisierte den Sieg des Lichts über die Finsternis, des Guten über dem Bösen. Wie populär dieser Kult war und ist, können Sie in Spanien oder Südfrankreich bei den Stierkämpfen noch heute erleben.

Die Aktualität des Mithras

Mithras und sein Kult des Sieges sind aktueller denn je. Wir leben heute in einer kapitalistischen Welt des Wettbewerbs. Die Arena ist der weltweite und möglichst freie Markt. Auf diesem Schlachtfeld gilt: Der Stärkere setzt sich immer durch. Wobei die Art der Stärke sehr unterschiedlich sein kann. In der Regel entscheidet über den Sieg die Menge des Kapitals, die man für den Kampf einsetzen kann.

Wenn die politische Kontrolle ausfällt, wenn es zum Beispiel kein durchsetzbares Verbot zur Monopolbildung gibt, bestimmen am Ende mächtige Sieger wie Amazon, Facebook, Apple, Google oder im Sport Vereine wie der FC Bayern München den Markt. Und natürlich achten solche Monopolisten, dass sie ein gutes Image haben. Sie geben vor, sich wie Mithras nur für das Gute einzusetzen.

Wie in allen krisenhaften Zeiten erfreut sich die Einteilung der Welt in gut und böse auch heute enormer Beliebtheit. In diesen Tagen bekämpfen sich vor allem Impfbefürworter und Impfgegner. Beide Seiten wähnen sich auf der Seite der Guten. Die Bösen sind natürlich immer die anderen. Weil die Welt nur noch schwarz und weiß zu sein scheint, ist ein Dialog oder gar ein Kompromiss ausgeschlossen. Gute Menschen und böse Menschen, Licht und Finsternis reden nicht miteinander. Sie bekämpfen sich.

Die Erkenntnis der Magier

Die Magier aus dem Morgenland waren ursprünglich auf der Suche nach einem mächtigen König. Nach einem Herrscher, der wie Mithras die finsteren und bösen Mächte dieser Welt besiegen wird. Matthäus stellt uns in seinem Evangelium die Magier als Erkennende vor.

Der Stern führte sie zu keinem Lichtgott in der Wiege einer mächtigen Königsfamilie. Er führte sie zu einem schlichten und armseligen Kind. In dem Stall, wie ihn Lukas schildert, oder der Lehmhütte im Matthäusevangelium oder der Höhle im Kindheitsevangelium des Jakobus, das
nicht in den Kanon der Bibel aufgenommen wurde, war kein Glanz. Da war nur eine arme Familie, nichts weiter.

Hätten die Magier tatsächlich nur diese arme Familie und nichts anderes gesehen, wären sie wohl missmutig nach Hause geritten. Doch sie verstanden die Botschaft. Gott offenbarte sich ihnen in der Finsternis. Daraus schlossen sie: Licht und Finsternis sind nicht getrennt. Licht und Finsternis gehören zusammen. Der allmächtige Gott thront nicht über eine verfluchte und böse Welt. Gott hat sich mit dieser Welt ganz und gar verbunden. Gott ist ein Gott der Erde. Ein Gott der Menschen. Ein Gott der Tiere und Pflanzen. Ein Gott des Lebens.

Der dunkle Stall ist Gottes Ort ebenso wie der unendliche Himmel. Erde und Himmel gehören zusammen. Sie dürfen nicht getrennt werden. Genauso wenig wie Licht und Finsternis getrennt werden dürfen. Denn Gott ist im Licht und in der Finsternis. Gott ist mit seiner Liebe bei jedem Menschen, bei jedem Geschöpf.

Was die Magier in jener heiligen Nacht sahen, hat für sie alles geändert. Die Welt war für sie nun erfüllt von Gottes Gegenwart. Deshalb reisten sie nicht nur „auf einem anderen Weg“ nach Hause. Sie reisten auf einer anderen Erde: auf einer erlösten, der Finsternis und dem Bösen nicht mehr ausgelieferten Erde. Sie reisten auf einer Erde, die erfüllt ist vom Glanz der Liebe und Barmherzigkeit Gottes.

Der Glanz der neuen Erde

Nun wissen wir, was es mit dem Glanz auf sich hat, der von dem Kind in Bethlehem ausgeht. Es ist der Glanz der neuen, der erlösten Erde. Die Heiligen Drei Könige repräsentieren diesen Glanz, den Glanz der neuen Erde. Wenn wir sie betrachten auf den wunderbaren Tafelbildern oder in den liebevoll gestalteten Krippen, dann teilen sie uns mit, was im Kolosserbrief so beschrieben wird:

„Christus ist das sichtbare Bild unseres unsichtbaren Gottes. […] Die ganze Fülle Gottes nahm Wohnung in ihm, damit das All durch ihn zurückfände in Gott hinein. Alles, was auf Erden und im Himmel ist, fand den Frieden durch ihn.“

Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens!