Lesepredigt Invokavit

6.3.2022
Predigt zu 2 Kor 6,1-10
Pfr. Dr. Roland Liebenberg


Moment der Wahrhaftigkeit


Paulus rechtfertigt sich als Mitarbeiter Gottes

Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im 6. Kapitel des zweiten Korintherbriefes. Dort schreibt der Apostel Paulus:

Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr nicht vergeblich die Gnade Gottes empfangt. Denn er spricht: „Ich habe dich zur willkommenen Zeit erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.“ Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit, siehe jetzt ist der Tag des Heils!

Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit dieser Dienst nicht verlästert werde; sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Bedrängnissen, in Nöten, in Ängsten, in Schlägen, in Gefängnissen, in Aufruhr, in Mühen, im Wachen, im Fasten, in Lauterkeit, in Erkenntnis, Langmut, in Freundlichkeit, im Heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die viele reich machen; als die nichts haben und doch alles haben.


Ein Moment der Wahrhaftigkeit

Sie wusste nicht, wann sie es ihm sagen sollte. Lange schon wollte sie es ihm mitteilen. Doch irgendwie ergab sich nicht die Gelegenheit. Sie spürte, dass sie nicht mehr lange warten sollte. Denn sie verlor den Mut und die Kraft. Es wurde immer schwieriger für sie, die Worte auszusprechen.

Viele Male hatten sie sich schon getroffen. Meist waren Freunde dabei. Manchmal waren sie auch nur zu zweit. Doch immer kam etwas dazwischen. Ging es um eine andere Sache. Es klappte einfach nicht. Doch dann war er da, der richtige Moment. Sie spürte es sofort. Er sah sie an, lächelte und schwieg. Sie wusste, dass er viel zu schüchtern war, um die Initiative zu ergreifen. Also lag es an ihr. Und dann sagte sie es ihm. Sie sagte ihm, dass sie ihn liebe. Aufrichtig und wahrhaftig, ohne Ausflüchte, ohne Netz unter den Füßen, sprach sie die Worte aus. Er hat jetzt mein Herz in seiner Hand, dachte sie. Und dann nahm er sie in seine Arme, küsste sie und flüsterte ihr dieselben Worte ins Ohr.

Die junge Frau und ihr Freund erlebten einen Moment der Wahrhaftigkeit. Einen Moment, der keine Ausflüchte mehr zulässt. Einen Moment, in dem man einem anderen Menschen zeigt, wer man wirklich ist, was man wirklich denkt, wie man wirklich fühlt. Ich denke, Momente der Wahrhaftigkeit sind Ihnen vertraut. Vielleicht waren die meisten von ihnen nicht ganz so romantisch wie bei der jungen Frau und ihrem Freund. Doch erlebten sicher auch Sie mit Ihren Lieben solche Momente der Wahrhaftigkeit.

Ein anderer Moment der Wahrhaftigkeit

Momente der Wahrhaftigkeit können auch anders verlaufen. Ich kann erkennen, dass ich mich getäuscht habe. Dass ich mir etwas vorgemacht habe und es jetzt keine Ausflüchte mehr gibt. Ich muss die Wahrheit akzeptieren.

So einen Moment der Wahrhaftigkeit dürften die meisten von uns am 24. Februar erlebt haben. Dabei hätten wir uns nur ein bisschen informieren müssen. Etwa über die Verbrechen der russischen Armee in Tschetschenien. Über die dortige Gewaltherrschaft des von Putin eingesetzten Diktators Ramsan Kadyrow. Oder über die Verbrechen der russischen Armee in Syrien. Die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte schätzte 2019, „dass in Syrien seit September 2015 etwa 19.000 Menschen, davon 8.300 Zivilisten, durch russische Luftangriffe ums Leben“ kamen. In Syrien werden die Menschen weiter mit russischer Hilfe verfolgt,
gefoltert und ermordet. Dafür sorgt der von Putin gestützte Diktator und Massenmörder Baschar al-Assad. Und in Weißrussland wird der von Putin gestützte Diktator Lukaschenko mit brutaler Gewalt weiter dafür sorgen, dass die russisch-belarussische Union von demokratischen Kräften nicht bedroht wird.

Wir hätten uns nur ein bisschen informieren müssen. Doch wollten wir mit all den Putin-Versteherinnen und -verstehern nicht wahrhaben, was nicht wahr sein durfte. Nun haben wir in einem Moment der Wahrhaftigkeit erkannt, wer der russische Diktator Putin wirklich ist.

Ein Moment der Wahrhaftigkeit bei Paulus

Von einem Moment der Wahrhaftigkeit berichtet auch unser Predigttext. In Korinth stellten Teile der Gemeinde die Autorität des Paulus in Frage. Er sei gar kein richtiger Apostel, warfen sie ihm vor. In seinen Reden sei so wenig zu spüren vom Geist Gottes. Und die Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde behalte er für sich.

Paulus schrieb der Gemeinde und besuchte sie abermals. Doch es half nichts. Der alte und kranke Apostel machte die bittere Erfahrung: Mein Lebenswerk, meine Persönlichkeit und meine Integrität werden in Frage gestellt. Dennoch hielt er an der Gemeinde fest.

Davon zeugt unser Predigttext. Bei ihm handelt es sich wahrscheinlich um einen Abschnitt aus seinem letzten Brief an die Gemeinde in Korinth. In ihm streifte er jegliche Zurückhaltung ab. Offen legte er dar, was ihm wichtig ist. Nichts spart er aus und nichts wird von ihm beschönigt: Nöte, Ängste und Schläge bei Verfolgungen und in Gefängnissen gestand er ebenso ein wie seine Armut und seine Traurigkeit. In einem Moment der Wahrhaftigkeit kommt eben alles auf den Tisch, auch und gerade die eigenen Schwächen.

Der heitere Grundton des Lebens

Doch ist sich der äußerlich arme und schwache Apostel auch gewiss: Ich werde getragen von der Gnade Gottes! Auch das kommt jetzt auf den Tisch: das, was sein Leben trägt, was sein Leben letztlich in aller Finsternis hell und zuversichtlich macht: die Erfahrung der Gemeinschaft mit Gott in allen Anfechtungen und Nöten.

„Gott war in Christus“, schreibt er kurz vorher in seinem letzten Brief an die Korinther, „und versöhnte [am Kreuz] die Welt mit sich selbst“. Derart beschenkt erfährt Paulus sein äußerlich armes und schwaches Leben geborgen in der Liebe Gottes. Und diese Liebe kann kein Ereignis auf Erden, nicht einmal ein Krieg erschüttern. Und das, genau das verleiht seinem von Anfechtungen und Bedrängnissen durchzogenen Leben einen heiteren Grundton: „Ja, ich bin schwach und mir wird Leid zugefügt, und doch bin ich jederzeit fröhlich. Denn ich bin geborgen in der Liebe Gottes.“

Geht es nach Paulus, sollte dieser heitere Grundton der Liebe im Leben aller Christenmenschen erklingen. Und das nicht nur in Momenten der Wahrhaftigkeit. „Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils! Nicht irgendwann, jetzt!“ ruft uns der Apostel zu. Heute, wie an jedem neuen Tag ist uns zugesagt: Dein Leben steht unter der Gnade Gottes. Du bist geborgen in seiner Liebe. Vertraue dieser Zusage und du wirst ihn in dir spüren, den heiteren Grundton des Lebens.

Dieser heitere Grundton des Lebens konnte auch beim Schweizer Theologen Karl Barth wahrgenommen werden. Karl Barth war einer der bedeutendsten protestantischen Theologen des 20. Jahrhunderts. Kurz vor seinem Tod, am 9. Dezember 1968 führte Barth ein Telefonat mit seinem Freund Eduard Thurneysen. Thurneysen hielt das Gespräch für die Nachwelt fest. Es waren wohl die letzten Worte Karl Barths an seine Mitwelt:

„Ja, die Welt ist dunkel. ... Nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn es wird regiert, nicht nur in Moskau oder in Washington oder in Peking, sondern es wird regiert, und zwar hier auf Erden, aber ganz von oben, vom Himmel her! Gott sitzt im Regimente! Darum fürchte ich mich nicht. Bleiben wir doch zuversichtlich auch in den dunkelsten Augenblicken! Lassen wir die Hoffnung nicht sinken, die Hoffnung für alle Menschen, für die ganze Völkerwelt! Gott lässt uns nicht fallen, keinen einzigen von uns und uns alle miteinander nicht! – Es wird regiert!“