Lesepredigt Karfreitag

 
15. April 2022
Lk 23,32-49
Pfr. Dr. Roland Liebenberg

Durchgang zum Paradies


Der Predigttext für den heutigen Tag ist der Passionserzählung des Lukas entnommen. Dort
steht im 23. Kapitel geschrieben:

Es wurden auch andere hingeführt, zwei Übeltäter, dass sie mit Jesus hingerichtet würden. Und
als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn dort und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!

Und sie verteilten seine Kleider und warfen das Los darum. Und das Volk stand da und sah zu.
Aber die Oberen spotteten und sprachen: Er hat andern geholfen; er helfe sich selber, ist er
Christus, der Auserwählte Gottes. Es verspotteten ihn auch die Soldaten, traten herzu und
brachten ihm Essig und sprachen: Bist du der Juden König, so hilf dir selber! Es war aber über
ihm auch eine Aufschrift: Dies ist der Juden König.

Aber einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn und sprach: Bist du nicht der
Christus? Hilf dir selbst und uns! Da antwortete der andere, wies ihn zurecht und sprach:
Fürchtest du nicht einmal Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Wir sind es zwar mit
Recht, denn wir empfangen, was unsere Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes
getan. Und er sprach: Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! Und Jesus
sprach zu ihm: Wahrlich ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.

Und es war schon um die sechste Stunde, und es kam eine Finsternis über das ganze Land bis
zur neunten Stunde. Und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels riss
mitten entzwei. Und Jesus rief laut: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er
das gesagt hatte, verschied er.

Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: Fürwahr, dieser
Mensch ist ein Gerechter gewesen! Und als das Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was
geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten wieder um. Es standen aber alle seine
Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das
alles.


Wir inmitten des Geschehens

Nüchtern und sachlich beginnt Lukas seine Erzählung über die Kreuzigung Jesu: „Und als sie
kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn dort und die Übeltäter mit
ihm.“ Kein Wort verliert Lukas über die brutale Gewalt, die da geschieht. Und doch berührt
seine Erzählung. Nach der nüchternen Einleitung ergreift nämlich der Gekreuzigte selbst das
Wort. Sein Wort nimmt uns mit hinein in die Erzählung. Es gehört zwar zur Erzählung. Seine
Reichweite aber geht darüber hinaus. Es richtet sich an uns, an die Lesenden und Hörenden.
Wenn wir uns das bewusst machen, wird die Distanz zum Geschehen auf Golgatha
aufgehoben. Wir sind mitten unter dem Volk, das dasteht und unbeteiligt zusieht. Wir sind bei
den Oberen und Soldaten, die für den Gefolterten nur Spott und Hohn übrighaben. Wir hängen
mit den Verbrechern am Kreuz.

Ja, für Lukas sind wir es, die zusehen. Sind wir es, die spotten. Sind wir es, die den gerechten
Lohn für ihre Ignoranz und Menschenverachtung empfangen. Dreimal äußert sich Jesus bei
Lukas am Kreuz. Dreimal spricht uns der Sterbende an. Und auf dreierlei Weise reagieren wir
darauf.

Das erste Wort des Gekreuzigten

Mit seinem ersten Wort bittet der Gekreuzigte Gott um Gnade für uns: „Vater, vergib ihnen;
denn sie wissen nicht, was sie tun!“

Was bedeutet hier Unwissen? Verstehe ich die Erzählung recht, dann geht es nicht um
Unwissen im Sinne von: Ich wusste nicht, was da vor sich ging. Pontius Pilatus, der Jesus zum
Tode verurteilte, wusste ganz genau, was er tat. Ebenso wie die römischen Soldaten, die das
Urteil vollstreckten. Ebenso wie die Umstehenden, die den Gekreuzigten verhöhnten. Ebenso
verhält es sich bei uns: Wir wissen um unsere dunklen Seiten. Wir wissen, wann, wo und wie
unser Handeln und Nichthandeln anderen Leid zufügt.

Angesichts des Krieges in der Ukraine wird derzeit vor allem unser Nichthandeln kritisiert. Wir
könnten mehr tun, um die um ihre Freiheit und ihr Leben kämpfenden Menschen in der Ukraine
zu unterstützen. Doch wir zögern. Und wir wissen: Das hat für die Menschen in der Ukraine
fatale Konsequenzen.

Welches Unwissen meint Jesus? Es zielt auf seine Person. Hier wird der Sohn Gottes
gekreuzigt. Mit Jesus hängt Gott am Kreuz. Das ist ein ungeheurer Gedanke: Die Menschen
kreuzigen Gott. Und Jesus lässt es sich nicht nur gefallen. Er bittet den Vater um Vergebung.
Der Gekreuzigte bittet um Vergebung für uns. Als unser Opfer macht er sich zu unserem Anwalt
und Fürspre-cher. So groß und unbegreiflich ist seine Liebe.

Das zu wissen müsste doch zur Umkehr reichen. Es müsste uns befähigen, unsere Schuld
einzugestehen und umzukehren. Doch Lukas ist Realist. Er kennt unsere Widerstände. Er weiß, wie wir in der Regel reagieren, wenn uns etwas vorgeworfen wird. Ich habe mir nichts
vorzuwerfen! Ein anderer ist schuld! Ich wehre ab. Manchmal zu Recht. Doch oft auch zu
Unrecht.

Wir sind mitten unter dem Volk und tun so, als wären wir unbeteiligt. Oder wir gehen wie die
Oberen und die Soldaten gleich zum Angriff über: Nicht ich, du bist schuld! Du hast dich selbst
in diese elende Lage gebracht! Nun hilf dir gefälligst auch selbst wieder heraus!

Das zweite Wort des Gekreuzigten

Gott nimmt die Bitte seines Sohnes um Vergebung an. Das bezeugt das zweite Wort des
Gekreuzigten. Wieder spricht uns Jesus an. Nun aber haben wir keinen Boden mehr unter den
Füßen. Denn Lukas hat uns mit den Übeltätern ans Kreuz genagelt. Angenagelt, festgenagelt
zwischen Himmel und Erde empfangen wir, wie einer der Verbrecher unterstreicht, „was unsere
Taten verdienen“.

Zugegeben, das ist etwas hart. Wer unter uns hat soviel auf dem Kerbholz, dass er eine solche
Strafe verdient? Wohl niemand. Dennoch hängt uns Lukas in seiner Erzählung mit den
Übeltätern ans Kreuz. Er will verdeutlichen, wie groß Gottes Bereitschaft zur Vergebung ist.
Auch Verbrecher, auch jene, die wir schnell im Geiste ans Kreuz nageln, dürfen auf die
Vergebung ihrer Schuld hoffen. Sie sind und bleiben Menschen wie wir, Kinder Gottes, mag ihre
Schuld noch so groß sein. Freilich müssen sie ihre Schuld mit Reue im Herzen und dem Willen
zur Umkehr auch eingestehen.

So wie der Übeltäter am Kreuz. Er beichtet ehrlich und ohne Ausreden seine Schuld. Er bittet
Jesus, seiner zu gedenken, wenn er in sein Reich kommt. Seine Bitte ist eine Bitte des
Glaubens. Der reuige Übeltäter ist sich der Vollmacht gewiss, die Gott seinem Sohn nach
dessen Auferstehung und Erhöhung verliehen hat. Die Bitte des Übeltäters ist unsere Bitte. Und
unsere Bitte um Vergebung wird erhört: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein“, antwortet
Jesus.

Das aber heißt für alle Schädelstätten in unserem Leben, den Stätten der Last und Schuld: Sie
können zu Durchgängen ins Paradies werden, wenn wir uns an Gott mit der Bitte um
Vergebung wenden.

Das dritte Wort des Gekreuzigten

Die Schädelstätte vor Jerusalem wird bei Lukas zum Durchgang ins Paradies. Die Erzählung
über eine brutale Hinrichtung wandelt Lukas in eine Hoffnungsgeschichte um. Was für eine
kühne Wendung!

Nichts wird dadurch beschönigt oder relativiert. Die brutale Hinrichtung am Kreuz bleibt brutal
und grausam. Was Menschen anderen Menschen antun können, kommt deutlich zum
Vorschein. Und dennoch steht das Opfer menschlicher Grausamkeit mit seiner
Hoffnungsbotschaft im Mittelpunkt. Bei Lukas schreit kein von Gott Verlassener sein letztes
Wort in eine von Gott verlassene Welt hinaus.

Jesus und unser Vater im Himmel sind eins. Diese Verbundenheit unterstreicht das dritte Wort
des Gekreuzigten. In tiefem Vertrauen zum allmächtigen Vater spricht der Gekreuzigte seine
letzten Worte: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände.“

Mit der Sonnenfinsternis und dem Beben deutet Lukas die unfassbare Bedeutung an, die er
diesem Vorgang beimisst. In der Finsternis des Todes wird der Durchgang ins Paradies, in das
Reich Gottes geöffnet. Der Weg ins Allerheiligste steht offen. Gott hat ihn um seines
gekreuzigten Sohnes willen geöffnet. Der Himmel steht seitdem offen. Und zwar für alle, die
Gott im Glauben darum bitten. Auch für reumütige Verbrecher.

Am Ende seiner Erzählung steht bei Lukas daher das Gotteslob. Nun stehen wir wieder unter
dem Kreuz. Unter dem Volk, das sich erschüttert wegen der Ereignisse an die Brust klopft. Der
römische Hauptmann preist Gott. Kurz vorher haben seine Soldaten Jesus noch verspottet.
Jetzt aber ist auch er beeindruckt von dem Gekreuzigten. Dass gerade er das Gotteslob
ausspricht, ist von Lukas wohlbedacht. Denn bis nach Rom wird die Geschichte von der
Kreuzigung Jesu verkündigt werden. Von dort gingen die Worte des Gekreuzigten um die ganze
Welt.

Denn alle Menschen sollen diese Worte hören. Sie sollen hören, wie aus der Folterstätte auf
dem Hügel Golgatha der Durchgang zum Paradies wurde.