Lesepredigt Pfingsten

05.06. 2022
Predigt zu Röm 8,1-2.10-11
Pfr. Dr. Roland Liebenberg

Der offene Himmel

Ermutigende Worte

Es war ein schöner sonniger Herbstvormittag. Sie machte einen Spaziergang im Park. Die Luft war frisch und klar. Die Herbstblätter strahlten bunt im Sonnenlicht. Sie begann, mit Gott zu reden. Das tat sie oft, wenn sie spazieren ging. Während ihres inneren Gesprächs mit Gott fiel ihr ihre Freundin ein. Diese war emotional sehr aufgewühlt. Berufliche und private Entwicklungen machten ihr zu schaffen.

Sie verspürte den Drang, sich sofort bei ihrer Freundin zu melden. Sie wollte sie ermutigen. Sie schaute auf die Uhr. Ihre Freundin war längst bei der Arbeit. Noch einmal horchte sie in sich hinein. Der Drang, die Freundin zu ermutigen, war ungebrochen. Also zückte sie ihr Handy, bat Gott um die richtigen Worte und sprach ihr eine Nachricht auf die Mailbox.

Ein paar Stunden später meldete sich die Freundin bei ihr. Sie bedankte sich für die Worte auf der Mailbox. In ihrer Not hatte sie Gott um einen Zuspruch gebeten. Als sie die Nachricht auf der Mailbox hörte, fühlte sie sich von Gott erhört. Ihre Worte nahm sie als den ersehnten Zuspruch wahr.

Der Himmel tat sich auf

Vor kurzem sah ich mir auf youtube noch einmal den Film über den berühmten Marsch zum Lincoln Memorial Monument am 28. August 1963 an. 250.000 Menschen marschierten damals mit Martin Luther King zu diesem denkwürdigen Ort. Ich habe diesen Film schon oft gesehen. Doch immer wieder beeindruckt er mich; und zwar wegen dieser einen Rede, die Martin Luther King dort hielt. In dieser Rede träumt er von einer Welt, in der die Menschen nicht mehr nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt werden.

Man kann Martin Luther King ansehen, dass er innerlich ergriffen ist von seinem Traum. Wie in Trance reißt er die Menschen mit seiner Rede mit, macht er ihnen Hoffnung und Mut, sich für eine Welt ohne Krieg einzusetzen, für eine Welt, in der Männer ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen, in der sich kein Volk mehr wider das andere erhebt.

Auch am Bildschirm spürt man, dass in diesem Prediger an diesem Tag der Heilige Geist wirkte. Seine Frau Coretta King erzählte danach in einem Interview: „An diesem Tag war uns allen, als kämen seine Worte von einem höheren Ort, als spreche durch ihn etwas Größeres zu den beladenen Menschen vor ihm. Der Himmel selbst tat sich auf, und wir waren wie verwandelt.“ „Der Himmel selbst tat sich auf, und wir waren wie verwandelt.“

Treffender kann man meiner Meinung nach Pfingsten und das, worum es bei einem Pfingsterlebnis geht, nicht beschreiben. Ich möchte ihnen das an einem weiteren Beispiel verdeutlichen.

Die Verwandlung des Saulus

Es handelt sich um den Predigttext für den heutigen Sonntag. Er steht im achten Kapitel des Römerbriefes. Dort schreibt Paulus:

Es gibt also keine Verurteilung mehr für die, die zu Christus Jesus gehören. Das bewirkt das Gesetz, das vom Geist Gottes bestimmt ist. Es ist das Gesetz des Lebens, das Leben schenkt durch die Zugehörigkeit zu Christus Jesus. Es hat dich befreit von dem alten Gesetz, das von der Sünde bestimmt ist und den Tod bringt. […]

Wenn Christus in euch gegenwärtig ist, dann ist euer Leib zwar tot aufgrund der Sünde. Aber der Geist erfüllt euch mit Leben, weil Gott euch als gerecht angenommen hat. Es ist derselbe Geist Gottes, der Jesus von den Toten auferweckt hat. Wenn dieser Geist nun in euch wohnt, dann gilt: Gott, der Christus von den Toten auferweckt hat, wird auch eurem sterblichen Leib das Leben schenken. Das geschieht durch seinen Geist, der in euch wohnt.

Als Paulus diese Zeilen schrieb, dachte er an sein Pfingsterlebnis vor Damaskus. Dort tat sich für ihn der Himmel auf. Hell umleuchtete ihn dort, wie in der Apostelgeschichte berichtet wird, der Geist Christi, der Geist, der frei und lebendig macht. Erfüllt von diesem Geist begann er sich zu einem anderen Menschen zu verwandeln. Besiegelt wurde seine Verwandlung dann drei Tage später bei seiner Taufe in Damaskus. Als Hananias die Hände auf ihn legte und ihn taufte. Als getaufter Christ überwand er seinen Zorn und Hass auf die Christen endgültig. Aus dem Christenverfolger Saulus war der Menschenfischer Paulus geworden.

Sein Pfingsterlebnis verarbeitete Paulus in seinem Römerbrief zu einer Tauftheologie. Sie kann mit den Worten Coretta Kings so zusammengefasst werden: Bei der Taufe tut sich der Himmel über den Täufling auf und er wird verwandelt. Der sündige, mit dem Tod behaftete Mensch wird im Wasser ertränkt. Und aus dem Wasser erhebt sich der verwandelte und mit dem ewigen Leben beschenkte Christusmensch. Die Verwandlung führt Gottes Geist durch. Wie Gottes Geist in Jesus Wohnung nahm, ihn von den Toten auferweckte und verwandelte, so nimmt Gottes Geist auch in uns Wohnung, um uns lebendig zu machen und zu verwandeln.

Meine Entscheidung

Gottes Geist wohnt in uns. Wie bei Paulus kann das grundlegende Folgen für unser Leben haben. Ich sage hier ganz bewusst „kann“. Denn Gottes Geist überwältigt und zwingt uns nicht, uns auf sein Wirken einzulassen. Wir können uns dem Geist und seinem Wirken auch verweigern. Wir können alles als Hirngespinst abtun. Wir können darauf beharren, dass Gott nicht existiert. Dass es nur dieses sündige, vergängliche und dem Tod geweihte Leben gibt. Sonst nichts.

Das können wir. Deshalb beginnt alles mit einer Entscheidung. Mit der Entscheidung sich auf den Heiligen Geist und sein Wirken einzulassen. Was aber passiert, wenn ich mich darauf einlasse? Wird Gottes Geist in mir dann gleich so wirksam, dass ich es spüre?

Gottes Zusage

Wann und wie Gottes Geist in mir wirkt, entscheidet Gott allein. Ich kann Gott nur um sein Wirken in mir bitten. Ich kann wie die Frau im Park das Gespräch mit Gott suchen. Ihn bitten, durch seinen Geist zu mir zu sprechen. Diese Bitte ist nicht vergeblich. Sie wird von Gott erhört. Das hat uns Jesus versprochen: „Darum sage ich euch: Bittet, so wir euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer anklopft, dem wird geöffnet.“

Dieses Versprechen darf freilich nicht als Wunscherfüllung verstanden werden. Gott ist nicht unser Erfüllungsgehilfe. Wann, wie und was Gott antwortet, haben wir nicht in der Hand. Gottes Antwort kann auch unangenehm sein und schmerzen. Dem Christenverfolger Saulus hat sie vor Damaskus förmlich den Boden unter den Füßen weggezogen. Wie auch immer die Antwort ausfällt, Gottes Geist wird in uns wirken und mit uns Kontakt aufnehmen.

Das Wirken des Geistes

Bei der Frau im Park war es ein plötzliches Wissen: Meine Freundin braucht jetzt eine Ermutigung. Dieses plötzliche Wissen war bei ihr verbunden mit der Bereitschaft, sofort zu handeln. Gottes Geist wirkt in der Regel auf unspektakuläre Weise. Es ist daher die Bereitschaft nötig, im Getriebe des Alltags auf mögliche Zeichen und Hinweise zu achten. Hilfreich sind auch Momente der Besinnung und Stille.

Spricht dann Gott Geist zu mir, dann braucht es den Gehorsam, das, was man hört oder wahrnimmt, auch umzusetzen. Bevor man das allerdings tut, sollte das vermeintliche Reden Gottes überprüft werden. Ist das, was ich vernommen habe, vereinbar mit dem, was der biblische Jesus sagt? Oder werden hier nur meine eigenen Wünsche und Vorstellungen bestätigt? Nützt es der Gemeinschaft? Hilft das, was ich vernommen habe, meinen Mitmenschen?

Für die Frau im Park waren diese Kriterien erfüllt. Sie betete zu Christus, als ihr die Not ihrer Freundin in den Sinn kam. Mit ihrem Anruf hat sie ihre Freundin nicht nur getröstet. Sie nahm sie auch mit hinein in die Gemeinschaft der Glaubenden und Betenden. Ihre Worte auf der Mailbox lösten bei der Freundin Freude und Dankbarkeit, Ruhe und Frieden aus.

Die Antwort der Freundin wiederum erfüllte die Frau im Park mit Gewissheit, dass Gottes Geist am Werk war. Das war auch für sie eine ermutigende und stärkende Erfahrung. Auch diese Erfahrung kann man mit den Worten Coretta Kings beschreiben: Der Himmel tat sich über sie auf. Und sie fühlte sich innerlich wie verwandelt