Lesepredigt Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr

Predigtreihe zu den Ich-bin-Worten Jesu
Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben (Joh 14,6)
Dr. Roland Liebenberg
8. November 2020


Jesus Christ Superstar

Er sah irre gut aus. Seine dunkelblonden Haare reichten bis zur Schulter. So wie er wollten wahrscheinlich die meisten jungen Männer in den 70er Jahren aussehen. Ich war da keine Ausnahme. Selbst mit der Dornenkrone wirkte er attraktiv. Das schöne Gesicht wurde von keinem Blutstropfen entstellt. Er sah aus wie ein Rockstar. Und er sang wie ein Rockstar. Ted Neeley war für mich die Idealbesetzung für den im Jahr 1973 gedrehten Musikfilm „Jesus Christ Superstar“. Mein Jesusbild hat dieser Sänger und Schauspieler in meiner Jugendzeit nachhaltig beeinflusst.
Ich stellte mir damals vor: Jesus war ein singender Hippie und führte ein alternatives Leben. Mit seiner Kommune aus Männern und Frauen zog er durch Galiläa. Was er besaß, teilte er mit den anderen. Er lehnte Gewalt ab, behandelte alle gleich gut und lebte im Einklang mit der Natur. So wollte ich auch sein. Der Hippie Jesus wurde für mich zu einem Vorbild.
Im Rückblick war das wohl mein erster persönlicher Zugang zu Jesus. Ohne ihn wäre ich wahrscheinlich nicht Pfarrer geworden. Denn der Hippie Jesus Christus machte mich neugierig. Ich wollte wissen, was über ihn in der Bibel erzählt wird.

Jesus und der Zeitgeist

Wie war es bei Ihnen? Welcher Jesus hat Sie in Ihrer Jugendzeit angesprochen? … Jede Zeit hat ihr Jesusbild, liebe Gemeinde. Das zeigt ein Blick in die vergangenen hundert Jahre. Vor und während des Ersten Weltkriegs wurde Jesus vor allem als Held verehrt. Denn das Deutsche Kaiserreich benötigte Helden. Helden, die sich selbstvergessen für ihr Vaterland opfern.
Daran schlossen sich Bemühungen an, aus Jesus von Nazareth einen Germanen zu machen. Der in allen Gesellschaftsteilen anzutreffende Hass auf Juden machte bei Jesus keine Ausnahme. Jesus durfte kein Jude mehr sein. Sofern sie sich noch als Christen verstanden, verehrten die Anhänger der nationalsozialistischen Rassenideologie Jesus als germanischen Christus.
Ab den 60er Jahren wandelte sich Jesus dann mehr und mehr zu einem Widerstandskämpfer und Revolutionär. Jesus wurde von Befreiungstheologen an die Seite der Armen, Unterdrückten und Entrechteten gestellt. Für den Befreiungskampf gegen die Tyrannen berief man sich auf Jesus und seine Hinwendung zu den Armen.
Im Gefolge der einflussreichen Frauenbewegung wurde Jesus dann zum ersten neuen Mann erklärt. Im Unterschied zu den Machos seiner Zeit soll er das Weibliche in sich nicht verdrängt und unterdrückt, sondern integriert haben. Das machte ihn für Feministinnen und einige bewegte Männer zu einem Wegweiser in ein neues, feministisch-ökologisches Zeitalter.
In unseren Tagen wird Jesus von vielen als Lebensberater oder Personal Trainer verehrt. Insbesondere in evangelikalen Kirchen wird die persönliche Beziehung zu Jesus mit der eigenen Selbstoptimierung verknüpft. Wer mit Jesus sein Leben führt, findet nicht nur Halt und Orientierung. Er oder sie wird auch erfolgreich sein. Erfolg und Wohlstand werden als Kennzeichen für eine besonders enge Beziehung zu Jesus verstanden.
Jesus als Held, Germane, Revolutionär, neuer Mann oder Personal Trainer – jede Zeit hat ihr Jesusbild. Es wird vom Zeitgeist geformt. Das ist nicht grundsätzlich schlecht. Denn das erleichtert den persönlichen Zugang zu Jesus. Mich hat als Jugendlicher der alternativ lebende Hippie Jesus angesprochen. So sehr dieses Bild auch dem damaligen Zeitgeist entsprang, so sehr hat es mir doch auch die Tür zum christlichen Glauben geöffnet.

Wir glauben in Bildern, liebe Gemeinde. Wenn wir beschreiben, wer Jesus für uns ist, was er für uns bedeutet, gebrauchen wir Bilder. Doch gilt es hier aufzupassen. Denn Bild ist nicht gleich Bild. Hier gibt es beträchtliche Unterschiede, die man beachten sollte.

Bildunterschiede

Wenn wir von Jesus in Bildern reden, liebe Gemeinde, sollten wir uns immer fragen: Ist mein Jesusbild mit dem biblischen Zeugnis vereinbar? Oder entspricht es eher dem vorherrschenden Zeitgeist und meinem eigenen Wunschdenken?
Die von mir angesprochenen Jesusbilder der Vergangenheit dienten dem Zeitgeist. Jesus wurde mit ihnen den jeweils vorherrschenden Sichtweisen, wie der Mensch und die Welt sein soll, angepasst. Mein alternativer Hippie-Jesus ist da keine Ausnahme. Jesus hatte gefälligst so zu sein, wie ihn der Zeitgeist und ich selbst in den 70er und frühen 80er Jahren haben wollte. Was in der Bibel über ihn geschrieben steht, spielt bei diesen Jesusbildern eine untergeordnete Rolle. Was in der Bibel mit den Bildern des Zeitgeistes vereinbar ist, wird herangezogen. Was ihnen widerspricht, wird unterschlagen. Der Held, Germane, Revolutionär, neue Mann oder Personal Trainer stellen daher enge, manipulative Jesusbilder dar. Sie machen Jesus zu unserem Sklaven. Die persönliche Beziehung zu ihm nimmt hier die Form einer Einbahnstraße an. Jesus ist kein Gegenüber, das mir was zu sagen hat. Er hat gefälligst so zu sein, wie ich ihn mir vorstelle und wünsche.
Die Ich-bin-Worte im Johannesevangelium gebrauchen andere Bilder. Bei ihnen handelt es sich um offene Jesusbilder. Sie zwingen ihn nicht in das Korsett des jeweiligen Zeitgeistes. Mit ihnen begegnet uns Jesus als freier und souveräner Ansprechpartner.

Ich bin der Weg

Jesus sagt: Ich bin der Weg. Und damit meint er: Ich bin der Weg, der zu Gott führt. Schon hier auf Erden gibt es einen Weg für dich, auf dem Gott gegenwärtig ist und der in sein Reich führt. Das ist mein Weg der Liebe, den ich gegangen bin. Und diesen Weg kannst auch du gehen, wenn du mir nachfolgst.
Es ist völlig offen, wie der Weg Jesu für uns aussieht. Er kann erfüllt sein von Liebe, Glück und Harmonie. Er kann aber auch wie bei unserem Herrn ins Leid führen. Wer die Menschen und unsere Mitgeschöpfe bedingungslos liebt, muss mit dem Kreuz rechnen.

Wie auch immer der Weg Jesu für uns aussehen mag, wir gehen ihn nicht allein. Jesus ist seinen Weg ans Kreuz auch nicht alleine gegangen. Sein Vater ging diesen schweren Weg mit. Im Johannesevangelium wird daher die Liebe Gottes am Kreuz offenbar. Weil Gott mit seinem Sohn den Weg ans Kreuz mitgeht, kann Jesus sagen: Ich bin der Weg.

Ich bin die Wahrheit

Jesus ergänzt diese Aussage mit einem weiteren offenen Bild. Er sagt: Ich bin die Wahrheit. Uns modernen Menschen eröffnen sich im Leben viele Wege. Wahrscheinlich gab es in der Geschichte der Menschheit noch nie so viele Möglichkeiten, unterschiedliche Wege zu gehen.
Jede und jeder von uns kann seinen ganz eigenen Weg gehen. Immer mehr Menschen tun das auch. Sie basteln sich ihr eigenes, individuelles Weltbild. Zu ihm gehört in der Regel auch die eigene, individuelle Spiritualität.
Natürlich sucht man sich auch Gleichgesinnte. Doch liegt der Schwerpunkt bei der eigenen Person und seinen individuellen Bedürfnissen. Singulär, einzigartig soll das Leben sein und die dazugehörige Spiritualität.
Auch der Weg Jesu lässt uns unseren eigenen, unverwechselbaren Weg gehen. Doch bleibt Jesus mit seinem biblischen Wort immer ein Ansprechpartner, der mir widersprechen, mich korrigieren kann. Ich gehe mit ihm nicht meinen, sondern seinen Weg, so einzigartig er auch sein mag. Und dieser Weg führt mich mit Ihnen, liebe Gemeinde, mit meinen Geschwistern in Christus zusammen.
Er führt mich mit Menschen zusammen, die sich zu Jesus Christus als dem einen Wort bekennen, „das wir zu hören, dem wir im Leben und Sterben zu vertrauen und gehorchen haben“.
Warum bekennen wir uns zu Jesus Christus? Weil er uns heute mitteilt: Ich bin die Wahrheit! Wer sich mit Jesus auf den Weg macht, ist wahrhaftig mit Gott unterwegs. Denn mit Jesus ist kein selbstgebasteltes Etwas zum Kreuz mitgegangen. Es war der in der Bibel bezeugte und lebendige Gott, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, unser Vater im Himmel, der mit Jesus zum Kreuz ging. Deshalb kann Jesus sagen: Ich bin die Wahrheit. Wenn du meinen Weg gehst, bist du wahrhaftig mit Gott unterwegs.

Ich bin das Leben

Und weil der ans Kreuz mitgehende Gott ein Gott des Lebens ist, kann Jesus sagen: „Ich bin das Leben.“ Jesu Weg ans Kreuz wird so zu Gottes Einspruch gegen den Tod. So schrecklich der Leidensweg Jesu tatsächlich ist. Beim Evangelisten Johannes wird er auch zu einer machtvollen Demonstration für die Auferstehung und das Leben.

Im Johannesevangelium vernimmt man von Jesus am Kreuz keinen Schrei der Gottverlassenheit wie bei Markus. Für Johannes besiegelt die Kreuzigung den Sieg des Lebens über den Tod. Unser Weg mit Jesus erreicht erst nach unserem Tod sein eigentliches Ziel. Deshalb kann Jesus sagen: Ich bin das Leben. Wenn du meinen Weg gehst, gehst du den Weg in das ewige Reich meines Vaters.

Eine persönliche Beziehung

Jesus als der Weg, die Wahrheit und das Leben. Anders als unsere engen und manipulativen Bilder ermöglichen die offenen Bilder der Ich-bin-Worte aus dem Johannesevangelium eine wirkliche Beziehung zu Jesus.
Denn nicht wir, sondern Jesus sagt uns, wer er für uns ist. Frei und souverän lädt Jesus uns ein, ihm auf dem Weg der Liebe nachzufolgen. Auf seinem Weg sind wir wahrhaftig mit Gott unterwegs. Deshalb führt sein Weg auch über den Tod hinaus. Am Ende feiert Jesus mit uns das Fest des ewigen Lebens.
Als ich diese Einladung erstmals vernahm, liebe Gemeinde, verblasste der alternative Hippie-Jesus meiner Jugendzeit. Ich höre die Songs aus dem Rockmusical „Jesus Christ Superstar“ immer noch gerne. Wie ich auch die Verfilmung mit Ted Neeley als Jesus für wirklich gelungen halte. Sie ist mir aber keine Hilfe mehr für eine persönliche Beziehung zu Jesus. Die kann nur der biblisch bezeugte Jesus selbst herstellen. Jener Jesus, der uns heute mitteilt:

 

Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.