Lesepredigt Judika 2020


29. März 2020

 Predigt zu Hebräer 13,12-14

Pfr. Dr. Roland Liebenberg

Draußen vor unseren Türen


Lasst uns hinausgehen!
Der diesjährige Predigttext für den Sonntag Judika steht im 13. Kapitel des Hebräerbriefes:
Jesus hat, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

Beginn der Passionszeit

Der heutige Sonntag war nach der alten Ordnung der Passionssonntag, mit dem die eigentliche Passionszeit begann, liebe Gemeinde. Bis zur Kreuzverehrung am Karfreitag oder der Osternachtfeier verhängte man in den Kirchen das Altarkreuz und Altarbild mit einem Tuch. In vielen Kirchen verdeckten die Gemeinden den gesamten Chorraum mit einem Behang, dem so genannten Hunger- oder Fastentuch. Die Gemeinden, die es sich leisten konnten oder betuchte Stifter in ihren Reihen hatten, ließen sich Tücher mit biblischen Szenen weben oder bemalen. Manche Tücher, wie zum Beispiel das berühmte Zittauer Fastentuch aus dem 15. Jahrhundert, boten ein Bildprogramm, das von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht reichte.
Da standen nun die Menschen vor den Fastentüchern am Sonntag Judika, der seinen Namen dem Anfang des 43. Psalms in seiner lateinischen Fassung verdankt: Judica me Deus – Verschaffe mir Recht Gott! Sie betrachteten die Bilder auf den Fastentüchern, die, wenn sie nicht so reichhaltig bebildert wie das Zittauer Exemplar waren, zumindest ein Bild von der Kreuzigung draußen auf dem Hügel Golgatha darboten.

Draußen vor dem Tor

Auch unser Predigttext nimmt dieses Bild auf: „Jesus hat, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor.“ Dabei geht es ihm vor allem um die Ortsangabe „draußen vor dem Tor“. Sie steht betont am Ende des Verses. Der Verfasser des Hebräerbriefes hatte hier nicht nur die Begebenheit im Sinn, dass die Jerusalemer Hinrichtungsstätte – ein schädelförmiger Felsen, der Schädelstätte, auf aramäisch Golgatha genannt wurde – außerhalb der Stadt lag. Er dachte wohl auch an die Erzählung von dem „Zelt der Begegnung“ im zweiten Buch Mose. In der Lutherübersetzung wird dieses Zelt „Stiftshütte“ genannt.
Ursprünglich als Tempel geplant, wurde die Stiftshütte nach dem Götzendienst des Volkes an dem goldenen Kalb zu einem bescheidenen Zelt. Aufgeschlagen wurde es außerhalb des Lagers. Dorthin begab sich Mose, um mit Gott zu reden. Zog das Volk weiter durch die Wüste, wurde auch das Zelt abgebaut und außerhalb der neuen Lagerstätte wieder neu aufgebaut. Indem der Hebräerbrief an diese Tradition erinnert, gibt er zu verstehen: Mit dem Ort „draußen vor dem Tor“ ist kein fester Standort der Gegenwart Gottes gemeint. Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Vater Jesu Christi ist unterwegs. Gott ist unterwegs mit den von ihm bedingungslos geliebten Menschen.

Draußen bei den Menschen

In dieser Krisenzeit kommen mir in diesem Zusammenhang die Menschen draußen vor unseren Haustüren in den Sinn. Menschen, die sich um die Kranken und Sterbenden kümmern. Menschen, die mit ihrer Arbeit für die Aufrechterhaltung der Versorgung mit Lebensmitteln oder Energie sorgen. Menschen, die einfach für andere da sind, damit sie diese schwierige Zeit überstehen. Menschen, die da draußen vor unseren Haustüren ihren Dienst für uns leisten. Gerade jetzt, in dieser Krisenzeit, kommen sie mir in den Sinn.
Ganz nah ist mir in diesen Tagen mein Patenkind. Sie ist Krankenschwester und kämpft Tag für Tag mit ihren Kolleginnen und Kollegen um das Leben anderer Menschen. Trotz der Gefahr, der sie sich dabei aussetzt, ist sie mit Herzblut bei der Sache und geht bis an ihre Grenzen. Und wenn sie nicht im OP-Saal oder am Krankenbett arbeitet, gibt sie Ratschläge, wie man zum Beispiel mit Zink- und Vitamintabletten das Immunsystem stärken kann.

Der Hebräerbrief teilt mir heute, am Sonntag Judika mit, dass Gott da draußen bei meinem Patenkind und all den anderen Menschen ist. Gott ist bei den Menschen, denen das Wohl ihrer Mitmenschen am Herzen liegt. Gott ist bei den Menschen, die für andere da sind. Für Dietrich Bonhoeffer sind es diese helfenden Menschen, die in unserer Welt der leerer werdenden Kirchen eine Gotteserfahrung machen. In seinen Gefängnisaufzeichnungen hielt er fest, dass Gott im „Dasein-für-andere“ erfahren wird. Denn das Leben seines Sohnes Jesus Christus, des einen Gottes in Menschengestalt, war ein Leben für andere. Wer für andere da ist, ist Bestandteil dieses Lebens, gehört zu Jesus Christus.
Das sollten auch wir, die wir zu Hause verharren müssen, beherzigen. Es ist ja nicht so, dass wir zum Nichtstun verdammt sind. Auch wir können für andere da sein. Ich kann meinem Partner, meiner Partnerin oder den Lieben um mich herum etwas Gutes tun: ein liebes Wort, eine spontane Umarmung, ein gutes Gericht und vieles mehr. Ich kann jemanden aus der Familie, dem Bekannten- und Freundeskreis anrufen, weil wir schon lange keinen Kontakt mehr hatten oder ich weiß, dass es ihm oder ihr nicht gut geht. Es gibt auch zu Hause viele Möglichkeiten, für andere da zu sein und im Nächsten unserem Bruder und Herrn zu begegnen.

Auf dem Weg in die zukünftige Stadt

In nicht allzu ferner Zeit wird es für uns alle heißen: „So lasst uns nun hinausgehen!“ Ich halte zwar die Diskussion über eine „Exit-Strategie“ aus dem derzeitigen Stillstand für verfrüht, doch werden wir auch nach dieser Krise wieder in unser „normales Leben“ zurückkehren. Ich habe hier ganz bewusst ein An- und Abführungszeichen gesetzt. Denn was heißt „normales Leben“? Wollen wir einfach dort weitermachen, wo wir uns vor der Corona-Pandemie befanden?

Mit der Botschaft des dieswöchigen Predigttextes ist das nur schwer vereinbar. „Wir alle haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“, lautet dessen Antwort auf die Frage. Wenn wir hinausgehen und dem Herrn nachfolgen wollen, dann suchen wir die zukünftige Stadt im Reich Gottes. Unser Weg führt, auch wenn uns das Kreuz, das wir auferlegt bekommen, manchmal zu erdrücken droht, in die ewige Freude des Reiches Gottes. Christinnen und Christen erkennt man aus der Sicht des Hebräerbriefes in dieser Welt neben ihrem Dasein für andere auch an ihrer Wanderschaft, an ihrem Unterwegssein.
Gerade ihnen sollte es möglich sein, Veränderungen zuzulassen; ja, sie vielleicht sogar selbst einzufordern. Nach der Corona-Pandemie werden meines Erachtens Veränderungen notwendig sein. Etwa in der Gesundheitsversorgung, die unter staatlicher Obhut gehört und nicht weiter den asozialen und zerstörerischen Profitinteressen des Marktes ausgeliefert werden darf. Jene, die derzeit draußen für andere da sind und ihre eigene Gesundheit aufs Spiel setzen, verdienen mehr Achtung und, insbesondere im Pflegebereich, mehr Lohn. Das und vieles mehr muss verändert werden, vielleicht auch im eigenen Leben. Angst davor zu haben brauchen wir nicht. Unser Weg führt ja hinaus zu ihm. Und mit ihm in die zukünftige Stadt.

Mit einer Strophe aus dem Wochenlied „Holz auf Jesu Schultern“ (EG 97) wünsche ich Ihnen eine gesegnete Passionswoche: Wollen wir Gott bitten, dass auf unsrer Fahrt Friede unsere Herzen und die Welt bewahrt.