Lesepredigt Miserikordias Domini 2020

26. April 2020
Predigt zu 1 Petrus 21-25
Pfr. Dr. Roland Liebenberg


Christi Fußstapfen

Der leidende Christus als Lebensmodell

Der diesjährige Predigttext für den dritten Sonntag der Osterzeit stammt aus dem ersten Petrusbrief. Dort lauten die Verse 21 bis 25:
Denn dazu seid ihr berufen worden. Denn auch Christus hat für euch gelitten und euch ein Vorbild hinterlassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußstapfen.
Er, der keine Sünde getan hat und dessen Mund sich kein Betrug fand; der, als er geschmäht wurde, die Schmähung nicht erwiderte, nicht drohte, als er litt, es aber dem heimstellte, der gerecht richtet; der unsre Sünden selbst hinaufgetragen hat an seinem Leib auf das Holz, damit wir, den Sünden abgestorben der Gerechtigkeit leben. Durch seine Wunden seid ihr heil geworden.
Denn ihr wart wie irrende Schafe; aber ihr seid nun zurückgebracht worden zum Hirten und Aufseher eurer Seelen.

Der Hirtensonntag
Psalm 23 als Wochenpsalm und der Wochenspruch Johannes 10,11 („Christus spricht: Ich bin der gute Hirte …“) vermitteln das Leitbild für diesen Sonntag, liebe Gemeinde. Heute ist der Tag des guten Hirten. Ein guter Hirte hält seine Herde zusammen, schützt sie und gibt die Richtung vor. In der agrarischen Gesellschaft zu biblischer Zeit war der Hirte eine alltägliche Erscheinung. Insofern war es konsequent, dass Juden und Christen das Bild vom guten Hirten auf Gott und Jesus Christus übertrugen. Ist die Erde doch voll der Güte des Herrn (misericordia Domini plena est terra), wie der 5. Vers des 33. Psalms lautet, von dem der heutige Sonntag seinen lateinischen Namen hat.
Für moderne Menschen des 21. Jahrhunderts klingt die Rede vom guten Hirten überholt. Schafherden mit einem Hirten trifft man heute kaum noch an. Zudem passt das Bild vom Hirten, dem ich hinterhertrotten soll, nicht zu meinem Selbstverständnis. Ich verstehe mich als unabhängiges und eigenverantwortliches Individuum. Ich brauche niemanden, der mir sagt, wo es langgeht. Das entscheide ich lieber selbst. Zugleich aber sehne ich mich danach, dass da einer ist, der sich um mich kümmert, der mir den Weg weist, wenn ich nicht mehr weiter weiß, der sich für mich einsetzt, wenn andere über mich herfallen, der meinen Durst nach Leben stillt und nach mir sucht, wenn ich mich verloren habe in den sinnlosen Nichtigkeiten, die mir die moderne Konsumwelt bietet.

Unsere Berufung
Derart hin- und hergerissen zwischen dem Willen zur Selbstbestimmung und der Sehnsucht nach Gott als meinen Seelenhirten begegne ich dem heutigen Predigttext. Er handelt davon, wozu wir als Christinnen und Christen berufen sind. Im Brief geht es ursprünglich um Sklaven. Sie gehörten der christlichen Gemeinde an und litten unter den Schikanen ihrer heidnischen Herren. „Wenn ihr um guter Taten willen leidet und es ertragt“, teilt ihnen der unbekannte Briefschreiber gegen Ende des 1. Jahrhunderts mit, „ist das Gnade bei Gott. Denn dazu seid ihr berufen worden. Denn auch Christus hat für euch gelitten und euch ein Vorbild hinterlassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußstapfen.“
Was für christliche Sklaven galt, gilt für alle Christinnen und Christen: Wir sind berufen zu der Gnade, Christus nachfolgen zu dürfen. Und wie mit der Nachfolge der Zuspruch der liebenden und ewigen Weggemeinschaft mit unserem Bruder und Herren verbunden ist, gehört zu ihr auch der Anspruch, die Konsequenzen zu ertragen, die sich aus dieser Gemeinschaft ergeben können. Wie Christus für uns gelitten hat, so verlangt der Briefschreiber auch von uns die Bereitschaft, möglichem Leid nicht auszuweichen. Der Weg Jesu an das Kreuz hat für den Verfasser des ersten Petrusbriefes Vorbildcharakter. Diesem Vorbild nachzufolgen, kann ins Leid führen.
Ich sage hier bewusst „kann“. Unsere Berufung führt nicht automatisch ins Leid. Der Briefschreiber will das Christentum nicht als Leidensreligion verklären. Er will in einer konkreten Leidenssituation Trost spenden. Christinnen und Christen, die Schmähungen und Gewalt erleiden, sind mit ihrem Leid nicht allein. Sie folgen auf ihrem Leidensweg, heute vor allem in Ländern wie Nordkorea, Afghanistan, Somalia, Libyen, Pakistan oder Eritrea, als von ihren Sünden befreite Christenmenschen den Fußstapfen ihres gekreuzigten und auferstandenen Herrn. Und auf ihrem Kreuzweg ist Christus mit seiner Liebe mit ihnen unterwegs.

Auf der Seite der Leidenden

Bei uns stellt sich die Situation anders dar. Verfolgungen müssen wir nicht erleiden. Im Gegenteil, wir müssen eher aufpassen, dass nicht in unserem Namen oder im Namen einer diffusen christlichen Tradition Menschen ausgegrenzt, diskriminiert oder angegriffen werden. Gerade in Europa ging das Christentum im Laufe seiner Geschichte immer wieder unselige Allianzen mit den herrschenden Mächten ein und wurde so selbst zur Ursache von unsäglichem Leid.
Ein Blick nach Polen, Ungarn, Russland oder in die USA zeigt, dass die Zeit dieser unseligen Allianzen keineswegs vorbei ist. Im Gegenteil, sei es die römisch-katholische Kirche, die russisch-orthodoxe Kirche oder der Protestantismus, in allen drei Konfessionen gibt es stärker werdende Kräfte, die die Nähe zur Macht suchen. Die nach Herrschaft streben, um die religiöse und politische Meinungshoheit auf Kosten Andersgläubiger und Andersdenkender zu erlangen.
Diesem Irrweg erteilt der erste Petrusbrief eine radikale Absage. Christi Fußstapfen führen nicht an die Seite unterdrückerischer und gewalttätiger Potentaten. Sie führen an die Seite der Leidenden. Sie führen zu jenen, die von den Herrschenden ausgegrenzt, erniedrigt und verfolgt oder, wie die Geflüchteten auf den griechischen Inseln, einfach vergessen werden. Zu diesen elenden und leidenden Menschen führen Christi Fußstapfen.

Und dorthin, zu den Leidenden, führt auch unser Weg, wenn wir unserem gekreuzigten und auferstandenem Herrn als von ihm befreite Christenmenschen nachfolgen wollen. Auf vielerlei Weise können wir uns für die Leidenden und ihr Recht auf ein menschenwürdiges Leben einsetzen. Das muss für uns selbst nicht ebenfalls die Erfahrung von Leid in Form von Schmähungen oder gar Gewalt zur Folge haben. Doch sollten wir vor möglichem Leid nicht zurückschrecken. Denn mit uns unterwegs ist unser guter Seelenhirte Jesus Christus. Er und sein Vater werden dafür sorgen, dass sich Recht und Gerechtigkeit am Ende durchsetzen werden. Dass „aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen“ wird.
Keiner hat den Glauben an eine gute Zukunft für mich überzeugender zum Ausdruck gebracht als der Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer. Mit seinen auch im Gesangbuch abgedruckten Glaubenssätzen, die er Weihnachten 1942 aufs Papier brachte, beende ich meine Lesepredigt und wünsche Ihnen eine gesegnete Osterzeit:
Ich glaube, daß Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, daß Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein. Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und daß es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten. Ich glaube, daß Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern daß er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.