Lesepredigt Weißer Sonntag 2020

19. April 2020
Predigt zu Jesaja 40,26-31
Pfr. Dr. Roland Liebenberg

Kraft und Stärke in schwierigen Zeiten


Trostworte für das müde Volk Israel

Der diesjährige Predigttext für den Sonntag Quasimodogeniti ist dem 40. Kapitel des nach dem Propheten Jesaja benannten Buches entnommen:
Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat all dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt.
Warum sprichst du denn Jakob, und du, Israel, sagst: „Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber“? Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt den Müden Kraft und Stärke genug den Unvermögenden. Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen; aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.

Der Weiße Sonntag

Heute ist der erste Sonntag nach Ostern. Sein lateinischer Name ist dem ersten Petrusbrief entnommen. Dort werden wir im zweiten Kapitel aufgefordert, begierig zu sein nach der unverfälschten, geistigen Milch „wie die neugeborenen Kindlein“ (lateinisch: quasi modo geniti infantes). Das eindrückliche Bild der unverfälschten Muttermilch steht für das uns zugesagte Heil der ewigen Gemeinschaft mit Gott. Die „neugeborenen Kindlein“ verweisen uns auf unsere Taufe. Gott sagte uns bei unserer Taufe ein für allemal seine Liebe und ewige Gemeinschaft zu.
Insofern war es konsequent, dass die katholische Kirche seit dem 17. Jahrhundert an diesem Sonntag die Erstkommunion feiert. Auch viele evangelische Gemeinde legten die Konfirmation mit dem ersten Abendmahlsgang auf den Weißen Sonntag. Wird das Abendmahl doch vor allem als ein Gemeinschaftsmahl verstanden. Im Abendmahl feiern wir mit unserem auferstandenen Bruder und Herrn Jesus Christus die ewige Gemeinschaft, die uns Gott bei unserer Taufe zugesagt hat.

Frust und Müdigkeit

Nun würde eigentlich auch bei uns die Zeit der Konfirmationsfeiern beginnen. Aus Rücksicht vor den Familien, die in der Region nach passenden Räumlichkeiten suchen müssen, haben wir in unseren Gemeinden die Feiern auf den zweiten und dritten Sonntag nach Ostern gelegt. Bereits zu Beginn der Corona-Krise mussten wir diese Termine fallen lassen. Nun steht auch der zweite Termin Mitte Juni in Frage. War die erste Absage schon schmerzlich, tut die absehbare zweite Absage jetzt wirklich weh. Wahrscheinlich müssen wir alle geplanten Gemeindefeiern bis Sommer absagen. Und wenn ich mich frage, wie wir damit umgehen, welche Absprachen nun mit allen Betroffenen zu führen sind und welche Alternativen wir in den Kirchenvorständen noch beschließen und organisieren können, fühle ich die Ratlosigkeit und Müdigkeit in mir größer werden.
Der Frust und die Müdigkeit, die der in der Forschung als „zweiter Jesaja“ genannte Prophet in Anbetracht des im babylonischen Exil befindlichen Volkes Israel anspricht, ist mir in diesen Tagen sehr nahe. Ich hadere mit den mich belastenden Absagen und Ausfällen. Für die Konfis und ihre Familien tut es mir besonders leid. Wir hatten alles so schön miteinander geplant. Auf dem abgesagten Konfi-Wochenende in Fiegenstall hätten wir mit den Tutis (Tutor*innen) den Sack zugemacht. Dann wären zwei richtig schöne Konfirmationsfeste in Kottensdorf und Regelsbach angestanden. Doch die Corona-Krise hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht. Frust und  Müdigkeit dürften viele von uns derzeit empfinden. Und das nicht nur, weil so viele schöne Feste ausfallen.

Hilft der Blick in die Sterne?

„Hebt eure Augen in die Höhe und seht!“ Das rät uns der Predigttext angesichts des Frusts und der Müdigkeit, die uns in diesen Krisentagen plagen. Die Nächte sind zurzeit besonders klar und zeigen einen beeindruckenden Sternenhimmel. Ich schaue ihn mir gerne an. Bei seiner Betrachtung befällt mich jedes Mal ein Staunen über die unendlichen Weiten des Universums. Wir sehen ja immer nur einen winzigen Ausschnitt des Weltalls. Mache
ich mir das bewusst, komme ich mir selbst winzig und vollkommen unbedeutend vor.

Gut, der Hinweis, dass Gott all dies geschaffen hat, kann mich Demut lehren. Ich kann vielleicht den Schöpfer und seine unfassbare Macht erahnen, wenn ich meine Augen in die Höhe erhebe und die Sterne betrachte. Es mag vielleicht auch „überm Sternenzelt … ein lieber Vater wohnen“, wie ihn Friedrich Schiller in seiner „Ode an die Freude“ besingt. Doch bekomme ich beim Anblick der Sterne am Nachthimmel davon nichts mit. Die Sterne sind stumm und schweigen. Wenn das dunkle Weltall mir etwas über Gott mitteilen könnte, dann wohl nur seine unendliche Ferne.

Der ferne und nahe Gott
Und doch, ruft uns der Prophet zu, hat der unausforschliche Gott das alles geschaffen. Alle seine Geschöpfe, vom Stern bis zum Insekt, kennt er mit seinem Namen. Auch dich kennt er. Der ferne Gott weiß deinen Namen. Bei deiner Taufe hat er dich bei deinem Namen gerufen und gesagt: Du bist mein! Der ferne Gott ist dir nah. Und das wird so
bleiben, bis in alle Ewigkeit.
Juden und Christen glauben an den fernen und zugleich nahen Gott. Gottes Verborgenheit ist die Voraussetzung für unsere Entscheidungsfreiheit und Selbstverantwortung. Wäre der Schöpfergott uns in seiner Allmacht nah, würde Gott uns andauernd seinen von uns zu erfüllenden Willen mitteilen, wären wir Gottes verantwortungslose Sklaven. Um unserer Freiheit und Verantwortung willen bleibt Gott uns daher verborgen.
Wie aber ist der ferne Gott uns zugleich nah? Mit seiner Liebe ist der ferne Gott uns nah. Für uns Christinnen und Christen ist Jesus Christus der Anhaltspunkt für diese Gewissheit. Der ferne Gott ist nicht über dem Sternenzelt geblieben. In Jesus Christus wurde Gott einer von uns. Sein Weg hier auf Erden war ein Weg der Liebe, von der Geburt bis zum Kreuz. Und an Ostern erfuhren wir, dass dieser Liebe die Zukunft gehört. Dass sie sich durchsetzen wird gegen unsere Dummheit und Bosheit. „Die Liebe hört niemals auf“, schreibt Paulus im ersten Korintherbrief.

Die nahe Liebe Gottes

Gott ist dort nah, wo Menschen bedingungslos Liebe erfahren. Hierfür sind die äußeren Umstände zweitrangig. Auch in unserer Gemeinde. Ob wir nun unsere schönen Feste feiern oder nicht, Gott ist uns mit seiner Liebe nah. Ich bin mir gewiss, dass Sie trotz des Frusts und der Müdigkeit Gottes Liebe auch in dieser schwierigen Zeit erfahren haben. Im Hören auf sein Wort oder durch andere Menschen, die ihnen bedingungslos ihre Liebe schenkten, und sei es nur durch eine wohltuende Geste.
Die Erfahrung der nahen Liebe Gottes wünsche ich Ihnen über die neu angebrochene Woche hinaus. Sie möge Ihnen neue Kraft verleihen, dass Sie „auffahren mit Flügeln wie Adler“, dass Sie laufen und wandeln und nicht matt und müde werden.

Ich verabschiede mich von Ihnen mit einer Zeile aus dem Kinderlied „Weißt du, wieviel Sternlein stehen“:


Gott im Himmel … kennt auch dich und hat dich lieb.